ZPO § 296 Abs. 1 § 340 Abs. 3 S. 3
Leitsatz
1. In Arzthaftungssachen kann ein Verstoß gegen das verfassungsmäßige Verbot einer "Überbeschleunigung" insb. dann vorliegen, wenn das als verspätet zurückgewiesene Verteidigungsvorbringen ein – i.d.R. schriftliches – Sachverständigengutachten veranlasst hätte, dieses Sachverständigengutachten aber in der Zeit zwischen dem Ende der Einspruchsbegründungsfrist und der darauf folgenden mündlichen Verhandlung ohnehin nicht hätte eingeholt werden können.
2. Verteidigungsmittel sind i.d.R. nicht "nach Ablauf einer hierfür gesetzten Frist" (§ 296 Abs. 1 ZPO) vorgebracht, wenn das Gericht nach Ablauf der gem. § 276 Abs. 1 S. 2 ZPO gesetzten (und verlängerten) Klageerwiderungsfrist dem Bekl. ohne Fristsetzung nochmals Gelegenheit zur Klageerwiderung gibt.
BGH, Urt. v. 3.7.2012 – VI ZR 120/11
Sachverhalt
Der Kl. nahm die beklagte Augenärztin als Erbe seiner während des Berufungsverfahrens verstorbenen Ehefrau wegen behaupteter verspäteter Diagnose eines bösartigen Adlerhautmelanoms auf Schadensersatz in Anspruch. Die damals noch durch den Streithelfer vertretene Bekl. versäumte die Klageerwiderungsfrist. Nachdem in der mündlichen Verhandlung für die Bekl. niemand erschienen war, erging gegen sie Versäumnisurteil auf Zahlung eines Schmerzensgeldes und auf Feststellung der Ersatzpflicht der Bekl. für künftige immaterielle und materielle Schäden infolge fehlerhafter Behandlung. Die Bekl. legte fristgerecht Einspruch ein, begründete ihn jedoch nicht innerhalb der Einspruchsfrist. Ihren Antrag auf Verlängerung der Einspruchsfrist wies das LG zurück. Der Einspruchstermin fand einen Monat nach Zustellung des Versäumnisurteils statt, in ihm ließ die Bekl. auf die Klage, unter Vorlage eines Schriftsatzes auf die Klage erwidern. Das LG wies den Vortrag der Bekl. als verspätet zurück und hielt das Versäumnisurteil aufrecht.
Die Revision des Streithelfers der Bekl. führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung an das BG.
2 Aus den Gründen:
[7]“ … II. Die Beurteilung des BG hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Entgegen seiner Auffassung bleibt der Beklagtenvortrag in der Berufungsinstanz nicht gem. § 531 Abs. 1 ZPO ausgeschlossen. Das LG hat die Verteidigungsmittel der Bekl. im ersten Rechtszug zu Unrecht zurückgewiesen.
[8] 1. Zwar führt das LG die Vorschrift des § 296 Abs. 1 ZPO an, ohne ausdrücklich auf die Verweisung in § 340 Abs. 3 S. 3 ZPO Bezug zu nehmen. In seiner Zurückweisungsbegründung stellt es aber darauf ab, dass der Einspruchsführer seine Angriffs- und Verteidigungsmittel innerhalb der Einspruchsfrist vorzubringen habe, soweit es einer sorgfältigen Prozessführung entspreche (§ 339 Abs. 1, § 340 Abs. 3 ZPO). Die lange Prozessdauer bis zum Versäumnisurteil dient dem LG als Argument dafür, dass die Bekl. spätestens mit der Einspruchsschrift auf die Klage hätte erwidern können und müssen. Es führt aus, die Verspätung habe nicht durch Anordnungen nach § 273 Abs. 2 ZPO ausgeglichen werden können, weil der maßgebende Schriftsatz erst im Einspruchstermin übergeben worden sei. Dies bezieht sich nach dem Kontext auf die Versäumung der Einspruchsfrist und ihre Folgen. Daraus geht nicht eindeutig hervor, ob die Zurückweisung auf § 340 Abs. 3 S. 3 i.V.m. § 296 Abs. 1 ZPO oder auch auf § 296 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 276 Abs. 1 S. 2 ZPO gestützt worden ist. Das kann aber offen bleiben, weil die Voraussetzungen einer Präklusion nach beiden Alternativen nicht erfüllt sind.
[9] 2. Die Revision rügt zu Recht, dass die auf die Versäumung der Einspruchsfrist gestützte Zurückweisung gegen das verfassungsmäßige Verbot einer ohne weiteres erkennbaren “Überbeschleunigung’ verstößt, wonach ein verspätetes Vorbringen nicht ausgeschlossen werden darf, wenn offenkundig ist, dass dieselbe Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vortrag eingetreten wäre (vgl. BVerfGE 75, 302, 316; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 296 Rn 22; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 296 Rn 64, 66).
[10] a) Die zivilprozessualen Präklusionsvorschriften haben im Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG strengen Ausnahmecharakter, weil sie sich zwangsläufig nachteilig auf das Bemühen um eine materiell richtige Entscheidung auswirken und einschneidende Folgen für die säumige Partei nach sich ziehen. Ihre Anwendung steht unter dem besonderen Gebot der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit (vgl. Senatsurt. v. 22.5.2001 – VI ZR 268/00, VersR 2002, 120, 121; BGH v. 5.3.1990 – II ZR 109/89, VersR 1990, 673, 674 = NJW 1990, 2389, 2390; BVerfGE 75, 302, 312; BVerfG v. 26.8.1988 – 2 BvR 1437/87, NJW 1989, 706; v. 9.5.2003 – 1 BvR 2190/00, juris Rn 10 m.w.N.). Allein der mit der Präklusion verfolgte Zweck einer Abwehr pflichtwidriger Verfahrensverzögerungen durch die Parteien rechtfertigt verfassungsrechtlich die Einschränkung des Prozessgrundrechts auf rechtliches Gehör (BVerfG v. 26.8.1988, a.a.O.).
[11] Soll die Bestimmung des § 296 Abs. 1 ZPO ihre vorgesehene Aufgabe wirksam erfüllen, so muss sie klar und ggf. auch streng gehandhabt werden. Der BGH vertritt deshalb...