VVG § 103 § 152
Leitsatz
Die Haftung des Kfz-Haftpflichtversicherers ist wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Schadensereignisses durch ihren Versicherungsnehmer grundsätzlich ausgeschlossen, wenn dieser einem sich mit hoher Geschwindigkeit herannahenden ICE-Zug entgegen geht, um sich von diesem überfahren zu lassen. Vorsätzlich handelte der bei der Kollision getötete Versicherungsnehmer, wenn er trotz seiner psychischen Ausnahmesituation nach seinem Bildungsstand und seinem Kenntnisstand von den Folgen seines Selbstmordes damit rechnen musste, dass an dem Zug Schäden eintreten mussten.
(Leitsätze der Schriftleitung)
OLG München, Urt. v. 11.3.2020 – 10 U 2150/18
Sachverhalt
Die klagende Bahngesellschaft macht gegen die beklagte Kfz-Haftpflichtversicherung den Ersatz von Schäden an einem Triebwagen ihres ICE aus einer Kollision mit dem bei der Bekl. versicherten Kfz ihres bei der Kollision getöteten VN geltend. Der VN hatte mit dem versicherten Pkw nach dem Verlassen der Straße die Halbschranke einer Kreuzung mit einer Bahnstrecke umfahren und kam mit seinem Pkw auf dem Bahngleis zum Stehen. Der Pkw wurde von einem herannahenden ICE überrollt und der VN, der eine BAK von 1,2 ‰ aufwies, getötet.
Das LG wies die Klage ab. Die Berufung der Kl. war erfolglos.
2 Aus den Gründen:
"…"
[14] B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
[15] I. Das LG hat zu Recht einen Anspruch der Kl. verneint, weil der VN der Bekl. die Kollision herbeigeführt hat, um sich zu töten.
[16] 1. Nach § 103 VVG haftet der VR nicht, wenn der VN vorsätzlich den Eintritt der Tatsache, für die er dem Dritten verantwortlich ist, widerrechtlich herbeigeführt hat. Bei dieser Vorschrift handelt es sich nicht um eine Obliegenheitsverletzung, die den VR nachträglich von seiner Verpflichtung zur Leistung befreit, sondern um einen subjektiven Risikoausschluss. Die hierdurch begründete Haftungsbegrenzung wirkt auch gegenüber dem geschädigten Dritten (vgl. BGH VersR 1971, 239). Vorsatz – auch i.S.d. § 103 VVG – bedeutet das Wissen und Wollen des rechtswidrigen Erfolgs; der Handelnde muss also den rechtswidrigen Erfolg seines Verhaltens voraussehen und trotzdem den Willen haben, sich entsprechend zu verhalten; zum Vorsatz gehört auch das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit der Tat; bedingter Vorsatz genügt. In Abweichung vom allgemeinen Deliktsrecht muss aber der Vorsatz, wenn er zum Ausschluss des Versicherungsschutzes führen soll, auch die Schadensfolgen umfassen, wie aus der Fassung des nunmehrigen § 103 VVG ausdrücklich hervorgeht, ohne dass hierdurch eine Abweichung von der früheren Rechtslage (§ 152 VVG) bewirkt werden sollte, vgl. OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 13.1.1977 – 1 U 63/76, BeckRS 1977, 01624).
[17] Der VN, der in Selbsttötungsabsicht einem mit hoher Geschwindigkeit herannahenden ICE-Zug entgegengeht, um sich von diesem überfahren zu lassen, handelt hinsichtlich der Schäden an dem Zug und der daraus resultierenden Folgeschäden vorsätzlich, wenn er trotz seiner psychischen Ausnahmesituation nach seinem Bildungsstand und seinen Kenntnissen von den Folgen eines derartigen Selbstmordes damit rechnen musste, dass solche Schadensfolgen zwangsläufig eintreten, vgl. OLG München r+s 2000, 58. Nichts anderes kann gelten, wenn sich, wovon der Senat vorliegend überzeugt ist, der VN in einem Pkw einem mit hoher Geschwindigkeit herannahenden ICE-Zug entgegenstellt. Steht die Selbstmordabsicht des VN der Bekl. fest, so hat er beim Umfahren der Schranke auch vorsätzlich i.S.d. § 103 VVG gehandelt.
[18] Von einer generell eingeschränkten Verantwortlichkeit eines Selbstmörders kann nicht ausgegangen werden. Dass der Gesetzgeber selbst nicht den Standpunkt teilt, nach dem ein Selbstmörder stets aus einer krankhaften Veranlagung heraus handele und deshalb mangels der Möglichkeit freier Willensbestimmung nicht vorsatzlich handeln könne, ergibt sich schon aus § 1611 VVG.
Diese Bestimmung geht gerade von der freien Entscheidungsmöglichkeit des Selbstmörders als dem Normalfall aus und lässt den Versicherungsschutz bei der Lebensversicherung im Falle des Selbstmordes des Versicherten nur dann bestehen, wenn dieser in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit gehandelt hat. Eine Suchterkrankung schließt nicht schon die Möglichkeit freier Willensbestimmung aus, solange der von Motiven gelenkte Wille noch Einfluss auf die Entscheidung des VN hat und sie insoweit verständlich macht (vgl. OLG Frankfurt a.M., VersR 1962, 821). Für die Unzurechnungsfähigkeit des VN trifft die Kl. die Beweislast. Anwendbar ist § 827 BGB und zwar auch im Rahmen von § 103 VVG (BGBZ 111, 372 = NJW 1990, 2387 = NJW-RR 1990, 1308 Ls.). Unzurechnungsfähigkeit im Sinne dieser Vorschrift ist nur dann gegeben, wenn sich der VN in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit zur Tatzeit befunden hat. Insbesondere deutet ein Selbstmord als solcher nicht auf ...