I. Vorbemerkungen
Es muss dringend Rechtssicherheit über die Frage geschaffen werden, ob das einvernehmliche Vorziehen von Hauptverhandlungen prozessrechtlich zulässig ist.
Jeder in Bußgeldsachen tätige Anwalt kennt die folgende Situation: Der Betroffene ist von der Pflicht zum Erscheinen entbunden und Zeugen nicht geladen. Man ist vorzeitig vor Ort, vielleicht weil man bei demselben Richter schon einen Termin wahrgenommen hat. Der Richter liegt seinerseits gut im Zeitplan und man könnte den weiteren, nach Aktenlage unproblematischen, Termin kurz vorziehen.
Der Umgang des Gerichts mit diesem Wunsch kann sich sehr unterschiedlich gestalten. Manche Richter vergewissern sich kurz, ob der Betroffene bereits entbunden wurde oder ob die Verteidigung unter Einräumung der Fahrereigenschaft noch schnell den Antrag auf Entbindung des Betroffenen stellt. Wenn das Gericht keine Zeugen geladen hat, wird der Termin dann kurzentschlossen vorgezogen. Die etwas vorsichtigeren Richter geben zusätzlich zu Protokoll, dass der Vorziehung von Seiten der Verteidigung nicht widersprochen wird.
Eine kleinere Gruppe meist junger Richter auf Probe folgt diesem Wunsch mit Verweis auf den Öffentlichkeitsgrundsatz allerdings nicht und wartet bis der Termin, der Ladung entsprechend auf die Minute genau, aufgerufen werden kann.
II. Problemlage
Es stellt sich die Frage, wie streng der Maßstab an das Öffentlichkeitsprinzip angelegt werden muss. Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist weder im Grundgesetz noch in der StPO explizit erwähnt. Er ergibt sich aus § 169, S. 1 GVG mit dem folgenden Wortlaut: "Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich."
Bereits 1963 entschied das BVerfG, dass die Prinzipien der Öffentlichkeit und der Mündlichkeit der Verhandlung keine Verfassungsrechtsgrundsätze seien, sondern Prozessrechtsmaximen für bestimmte Verfahrensarten.
Der letzten gewichtigeren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lag die Sicherungsverfügung eines Landgerichtspräsidenten in einem Strafverfahren zugrunde, die u.a. das Tragen von "Kutten", die die Zugehörigkeit zu einem Motorradclub demonstrieren, untersagt. Der Beschwerdeführer sah darin u.a. einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass der Grundsatz der Öffentlichkeit "außer durch ausdrückliche Regelungen auch durch gesetzlich nicht erfasste unabweisbare Bedürfnisse der Rechtspflege modifiziert werden" könne. Man sollte in dieser Entscheidung noch keine klare Trennlinie zwischen den zulässigen und nicht mehr zulässigen Einschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes sehen, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt:
§ 169 GVG dient in erster Linie dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit, wobei die Massenmedienöffentlichkeit im Vordergrund steht. Mayer betont als Hauptzweck die "Kontrolle des Verfahrensgangs durch die Allgemeinheit". Der Grundsatz wird u.a. eingeschränkt zum Schutz der Persönlichkeitssphäre durch §§ 171a, 171b GVG und zum Schutz der Sicherheit des Staates, von Zeugen, Geschäfts- oder anderen schützenswerten Geheimnissen durch § 172 GVG. Weitere Einschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes enthält § 48 Abs. 1 und 3 JGG. Explizite Einschränkungsmöglichkeiten für Verhandlungen in Bußgeldsachen enthalten das OWiG, die StPO oder das GVG jedoch nicht.
Mangels einer solchen expliziten Einschränkung für Bußgeldverhandlungen lassen die Richter mit einer strengen Auslegung des Öffentlichkeitsgrundsatzes eine protokollierte Einwilligung der Verteidigung nicht genügen und sehen bei einem Vorziehen der Verhandlung einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz. Es wäre nach diesem strengen Maßstab ja nicht auszuschließen, dass ein Interessierter morgens den Terminaushang gelesen, dann den Entschluss gefasst habe, nicht die Verhandlung gegen X um 13.00 Uhr, sondern die um 14.00 Uhr gegen Y zu besuchen und bis dahin das Gerichtsgebäude wieder verlassen habe. Diesem die Öffentlichkeit präsentierenden Interessierten würde aber die Gelegenheit zur Teilnahme genommen, wenn die Verhandlung vorgezogen würde, ohne dass er zuvor Kenntnis erlangen konnte. Deshalb sei eine Vorziehung ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz. In die gleiche Richtung argumentiert auch Mayer mit der Auffassung, dass die Vorschriftenüber die Öffentlichkeit der Verhandlung der Parteidisposition entzogen sei und das Gericht deshalb "nicht früher mit der Sitzung beginnen dürfe als angekündigt".
Da die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ein absoluter Revisionsgrund im Sinne von § 338 Nr. 6 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG ist, sind die Bedenken der vorsichtigen Richter zunächst verständlich. Die andere Frage aber ist, ob diese Bedenken nach einer tieferen Prüfung noch aufrechterhalten werden müssen.