VVG § 49
Leitsatz
Ein Vertrag über vorläufige Deckung gewährt dem VN bei Eintritt des Versicherungsfalls während seiner Geltung auch dann Versicherungsschutz, wenn der mit ihm verbundene Antrag auf Neuabschluss eines Vertrages über eine Berufsunfähigkeitsversicherung und Aufhebung eines bestehenden Vertrages abgelehnt wird.
(Leitsatz der Schriftleitung)
LG Verden, Urt. v. 6.10.2021 – 80 240/20
Sachverhalt
Die VN unterhielt seit Dezember 2015 bei dem VR einen Vertrag über eine selbstständige Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem Rentenversprechen von 1.000 EUR monatlich. Im September 2016 beantragte sie einen weiteren Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung, der ihm höhere Leistungen, nämlich 1.700 EUR monatlich, versprechen sollte. Der bestehende Vertrag aus dem Jahr 2015 sollte gleichzeitig aufgehoben werden. Der VR gewährte der VN für diesen neuen Vertrag vorläufige Deckung, begrenzt auf eine Höchstdeckung von 12.000 EUR jährlich. Im Januar 2017 trat bei der VN aufgrund psychischer Erkrankungen Berufsunfähigkeit ein. Im Mai 2017 lehnte der VR den Abschluss des neuen Vertrages ab und kündigte den Vertrag über vorläufige Deckung. Der VR hat lediglich die Rentenleistung aus dem alten Vertrag geleistet. Die VN verlangt zusätzlich die Zahlung der Rente aus dem Vertrag über vorläufige Deckung.
2 Aus den Gründen: …
I. Der Kl. steht aus dem Vertrag über den vorläufigen Versicherungsschutz i.V.m. § 1 der AVB ein Anspruch auf Zahlung einer monatlichen Berufsunfähigkeitsrente von 1.000,00 EUR, gedeckelt auf einen Betrag von 12.000,00 EUR pro Jahr einschließlich Überschussbeteiligung, seit Eintritt des Versicherungsfalls ab dem 1.2.2017 zu.
1. Die Parteien haben einen eigenständigen Versicherungsvertrag über die Gewährung vorläufigen Versicherungsschutzes bis zur Entscheidung über die Annahme des Antrags vom 26.9.2016 geschlossen. Die vorläufige Deckung stellt grundsätzlich einen eigenständigen Versicherungsvertrag dar, mit dem die Parteien für einen vorübergehenden Zeitraum Versicherungsschutz bis zum Abschluss des beabsichtigten Hauptvertrages vereinbaren. Der Inhalt dieses Vertrages bestimmt sich nach den jeweiligen Parteivereinbarungen und wird sich im Regelfall weitgehend an dem zu schließenden endgültigen Vertrag anlehnen.
Nach Auslegung des Antrages vom 26.9.2016 – entsprechend dem objektiven Empfängerhorizont – gelangt die Kammer zu dem Ergebnis, dass die Parteien durch zwei rechtlich eigenständige Versicherungsverträge verbunden sind. Dass der alte Vertrag aus dem Jahr 2015 aufgehoben werden sollte, wenn der Antrag aus dem Jahr 2016 angenommen wird, ändert an der rechtlichen Selbstständigkeit beider Verträge nichts.
Das Konstrukt der vorläufigen Deckung ist gesetzlich ausdrücklich in § 49 VVG verankert. Mit dem Antrag hat die Kl. den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu neuen Konditionen beantragt. Die Bekl. hat gleichsam wie bei einem neuen Versicherungsvertrag eine Gesundheitsprüfung der Kl. vorgenommen. Auch diese Aspekte sprechen für die rechtliche Selbstständigkeit beider Verträge. Letztlich ist dieser Aspekt nach dem Anerkenntnis der Bekl. zur Leistungspflicht dem Grunde nach auch nicht weiter streitig.
2. Aus Sicht der Kammer steht der Kl. aus diesem Vertrag über den vorläufigen Versicherungsschutz eine Jahresrente einschließlich Überschussbeteiligung von 12.000,00 EUR zu. Entgegen der Auffassung der Bekl. besteht mangels Lücken der rechtsgeschäftlichen Regelung kein Raum für eine ergänzende Vertragsauslegung.
Die Voraussetzungen für eine derartige ergänzende Vertragsauslegung sind zum einen, dass der Vertrag eine Regelungslücke, d.h. eine planwidrige Unvollständigkeit, enthält. Diese ist gegeben, wenn der Vertrag eine Bestimmung vermissen lässt, die erforderlich ist, um den ihm zugrunde zu legenden Regelungsplan zu verwirklichen. Ohne die Vervollständigung des Vertrages muss eine angemessene, interessengerechte Lösung nicht zu erzielen sein. In der Regel ist die Lücke darauf zurückzuführen, dass die Parteien an einen bestimmten regelungsbedürftigen Punkt nicht gedacht haben, dass sie eine Regelung nicht für erforderlich hielten oder dass sich die bei Vertragsschluss bestehenden wirtschaftlichen oder rechtlichen Verhältnisse nachträglich geändert haben. Eine Regelungslücke kann allerdings nicht daraus hergeleitet werden, dass sich eine eindeutige Regelung als unbillig erweist (Palandt/Ellenberger, 80. Auflage 2021, § 157 Rn. 2).
Aus Sicht der Kammer besteht keine derartige planwidrige Unvollständigkeit des Vertrages über den vorläufigen Versicherungsschutz. Die zu zahlende Berufsunfähigkeitsrente ist nach den Bedingungen für den vorläufigen Versicherungsschutz, wie sie von der Beklagten im Wege allgemeiner Vertragsbestimmungen vorgegeben worden sind, ausreichend bestimmt. Die Regelung in § 1 der AVB lautet u.a.:
2. Der vorläufige Versicherungsschutz erstreckt sich auch auf die für den Fall der Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit beantragten Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung … Wir erbringen bei Eintritt ein...