1) Der Nachweis einer sog. Primärverletzung bei einem Auffahrunfall, sei es ein Hämatom oder ein Schulter-Arm-Syndrom, ist nach § 286 ZPO zu führen (vgl. OLG Frankfurt zfs 2009, 323). Behauptet der Geschädigte weitere Schäden aus derselben Schädigungsursache, sieht die Rechtsprechung das als eine Frage der nach dem Maßstab des § 287 ZPO zu prüfenden haftungsausfüllenden Kausalität (vgl. BGH NJW 2004, 1945; BGH VersR 2004, 118; Musielak/Foerste, ZPO, 7. Aufl., § 287 Rn 4 f.).
Für den Geschädigten hat das die Folge, dass er anders als bei der behaupteten Unfallursächlichkeit für die Primärverletzung nur noch den Nachweis mit dem Beweismaß des § 287 ZPO zu führen hat. Es muss von ihm nachgewiesen werden, dass eine höhere, zumindest überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der von ihm behaupteten Ursächlichkeit des Unfalls für die – weiteren – Schadensfolgen spricht (vgl. BGH NJW-RR 2006, 1238; BGH NJW-RR 2002, 166, 167; BGH NJW 1996, 775, 776); vgl. auch BGH VersR 2009, 69; OLG Frankfurt zfs 2009, 323; OLG Saarbrücken NJW-RR 2011, 178, 179).
2) Erscheint danach der Nachweis der Primärverletzung bei Fehlen objektivierbarer Befunde, wie etwa bei Feststellung leichter HWS-Syndrome (Erdmann I) ungleich schwieriger als die Führung des Nachweises der haftungsausfüllenden Kausalität, ist festzustellen, dass die fehlende Objektivierbarkeit keine unüberwindbare Hürde für die Bejahung des Ursachenzusammenhanges zwischen Unfall und Primärereignis darstellt. Die Glaubwürdigkeit des möglichen Geschädigten und die Plausibilität seiner Schadensschilderung können die für § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Gerichts herbeiführen (vgl. OLG Saarbrücken NJW-RR 2011,178, 179).
3) Methodisch bietet sich bei der Prüfung der haftungsausfüllenden Ursächlichkeit nach § 287 ZPO das sog. Ausschlussverfahren an. Kommt das Unfallereignis als einzige ernsthafte Möglichkeit des Folgeschadens in Betracht, ist der Nachweis geführt (vgl. BGH NJW 2003, 1116; OLG Saarbrücken NJW-RR 2011, 178, 179): Andererseits kann bei gesichertem Unfallmechanismus und Fehlen einer Überflexion durch die Wirkung einer Kopfstütze von einer Ursächlichkeit des Auffahrunfalls für einen Riss des Faserrings der Bandscheibe oder der Lösung von der Endplatte nicht ausgegangen werden (vgl. OLG Frankfurt zfs 2009, 323, 324).
4) Die vordringliche Notwendigkeit der Einholung eines medizinischen Gutachtens zur Klärung der Frage, ob ein HWS-Syndrom vorliege, ist schon von dem BGH recht dezidiert dargestellt worden (vgl. BGH zfs 2008, 562). Stellt der für die biomechanische Klärung der Frage berufene Gutachter zugleich medizinische Überlegungen an, wie etwa die, dass die von ihm für die Auslösung eines HWS-Syndroms erforderliche Überschreitung der "Harmlosigkeitsgrenze" nicht vorliege, die kollisionsbedingte Differenzgeschwindigkeit des durch den Auffahrvorgang betroffenen Fahrzeuges zu gering sei, um zu einer Verletzung der Insassen beitragen zu können, überschreitet er nicht nur die Grenzen seines Fachgebietes, sondern dokumentiert damit auch, dass ihm für die Beurteilung dieser Frage das erforderliche Fachwissen fehlt. Eine starre Harmlosigkeitsgrenze besteht nicht (vgl. auch BGH NZV 2003, 167 m. Anm. Burmann).
5) Diesen Fehler hatte der Sachverständige vermieden und unter Verneinung einer Unterschreitung der Harmlosigkeitsgrenze aus technischer Sicht auf die Notwendigkeit einer medizinischen Klärung verwiesen. Der Verfahrensfehler des LG lag darin, dass es die gebotene Klärung des Primärereignis für überflüssig hielt und den Sachverständigen allein zur Prüfung der haftungsausfüllenden Ursächlichkeit des behaupteten Folgeschadens der angegebenen Sekundärverletzung aufforderte.
6) Hinzu kommt, dass der Sachverständige verfahrensfehlerhaft von dem Beweismaß des § 286 ZPO ausging und damit überhöhte Anforderungen an die Überzeugungsbildung dafür anstellte, dass der Tinnitus auf das Unfallereignis zurückzuführen sei.
RiOLG a.D. Heinz Diehl, Neu-Isenburg