Nun sollte die Ausrichtung der Tabellen auf typische Unfallsituationen, ihre Konzentration auf eine grob zugeschnittene Unfalltypik und ihre Beschränkung auf relativ große Quotensprünge nicht von vornherein negativ zu bewerten sein.
Auch ohne die Tabelle orientiert sich der Richter an vergleichbaren Unfallsituationen und für die Quote an Eckwerten von Null – 50:50 – Voll und füllt die Quotenräume dazwischen regelmäßig mit "runden" Quoten aus in Stufungen von allenfalls 1/5 (20 %). Denn auch der Richter erkennt ohne Quotentabelle, dass angesichts der Vielzahl von Unfallfaktoren und des Dunkels, das schon angesichts begrenzter Zeit- und Wirtschaftlichkeitsressourcen nie ganz erhellt wird, nie mit einer Feingoldwaage gewogen werden kann. Und es können auch ohne Tabellen in Entscheidungssammlungen Grundmuster richterlicher Beurteilung ausgemacht werden; etwa:
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wer das Rotlicht überfährt: Haftung zu 100 %; Mithaftung des Querenden bei fliegendem Start zu 25 %; |
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wer bei frühem Gelb in die Kreuzung einfährt, haftet grundsätzlich nicht, weil der Querende vorzeitig in die Kreuzung eingefahren sein muss; |
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bei rückstauendem Querverkehr regelmäßig Schadensteilung, weil der rückstauende Querverkehr zwar die Kreuzung bevorrechtigt räumen darf, dies aber unter Beachtung des einfahrenden Verkehrs, und der Einfahrende die Räumung ermöglichen muss; |
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bei irreführende Fahrweise des Vorfahrtberechtigten (rechter Blinker, aber Fahrt geradeaus) mindestens 50 % zu 50 %; wenn er die Geschwindigkeit verlangsamt bis zu 100 %. |
Eine Quotentabelle bringt ganz sicher Vorteile:
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sie fördert den Gleichklang der Quotierung und signalisiert Praxisnähe und Vernunft; |
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sie verbessert die Berechenbarkeit für Geschädigten und Versicherer; |
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sie kann zur Mäßigung des Geschädigten in seinen Ansprüchen beitragen, allerdings auch zu ihrer Abwehr durch den Versicherer; |
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sie kann die Vergleichsbereitschaft fördern und das Prozessrisiko vermindern. |
Quotentabellen haben aber auch Nachteile:
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sie führen weg von der Gesamtbetrachtung aller Umstände des konkreten Falles und hin zu seiner Subsumtion unter den Tabellenfall durch Zurechtschneiden, Verschlanken, ggf. Interpolieren; |
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sie drehen die Aufgabe des Anwalts und des Richters um: die Tabellenrubrik wird zur "Norm", die schon die Aufklärung des Sachverhalts bestimmt und begrenzt; |
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wie beim Anscheinsbeweis muss der Tabellensachverhalt, die Regelquote "erschüttert" werden von dem, der eine andere Quote will: so könnte die Abwägung revisibel werden (!); |
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sie übertönen das eigene Judiz und reklamiern für sich einen Abwägungsautomatismus, den auch eine Software übernehmen könnte; |
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schließlich können sie ihre dienende Funktion verlassen und sich selbstständig machen: es wägen nicht mehr die Gewichte der konkreten Gefahrenbeiträge ab, sondern die Tabelle hat schon gewogen, ohne den konkreten Fall zu kennen: eine ganz andere Qualität der Binde, die Justitia anlegt. |
In der Bilanz erscheinen mir die Quotentabellen doch nicht so gerechtigkeitsfördernd zu sein, wie manche ihrer Verfasser vorgeben.
Deshalb warnen die Verfasser der Münchener Quotentabelle zu Recht vor einer Überschätzung ihrer Tabelle. Sie wollen sie nur für Fälle anwenden, in denen die Einzelheiten nicht geklärt sind und die Haftung allein aus der Betriebsgefahr oder dem Anscheinsbeweis entnommen wird. "Kein Unfall gleicht dem anderen, die atypischen Verkehrsunfälle sind die Regel, die typischen die Ausnahme." "Eine in der Tabelle als 2:1 ausgewiesene Quote kann nach der Beweissituation 0:100 ergeben." "Bei der Vielzahl von Verschuldens- und Verursachungsmöglichkeiten im Straßenverkehr verbietet sich jegliche Analogie."
Aber so kann die Quotentabelle jedenfalls nicht den "Traum" (den "Alptraum"?) des Juristen erfüllen: nach Eingabe aller Daten des Unfallgeschehens in den Computer zeigt der die "korrekte" Quote an.
Gewichtung aller Bausteine des Unfalls in ihrem Verhältnis zueinander und unter dem Einfluss von Ort, Licht und Wetter am Unfalltag von Fall zu Fall kann die Tabelle oder gar ein Automat nicht ersetzen. Sie bleibt immer auch die Aufgabe genauerer Unfallaufklärung, von Wertung aus Erfahrung und Judiz – und auch ein bisschen des Bauchgefühls.
Autor: Dr. Erich Steffen, Vors. Richter am BGH a.D., Karlsruhe