OWiG § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 § 51
Leitsatz
1. Da die öffentliche Zustellung anders als jede andere Zustellungsform keine praktische Möglichkeit für den Zustellungsadressaten schafft, von dem zugestellten Dokument tatsächlich Kenntnis zu nehmen und damit eine Zustellungsfiktion beinhaltet, ist diese nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG nur dann zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung wegen des tatsächlich unbekannten Aufenthalts des Zustellempfängers oder aus sonstigen sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist (BVerfG NJW 1988, 2361). Die Anordnung der öffentlichen Zustellung ist daher nach ständiger Rechtsprechung der Obergerichte nur als "ultima ratio" zulässig (OLG Hamm StraFo 2005, 244).
2. Von einem "unbekannten Aufenthaltsort" im Sinne der Verwaltungszustellungsgesetze ist daher nur dann auszugehen, wenn alle zu Gebote stehenden zumutbaren Mittel und alle nach den Umständen des Falles verfügbaren Erkenntnismöglichkeiten zur Erforschung des Aufenthalts des Zustellungsempfängers ausgeschöpft sind und wenn sich aufgrund sorgfältiger Prüfung der Nachforschungsergebnisse ergibt, dass andere Zustellungsmöglichkeiten nicht ausführbar sind.
BayObLG, Beschl. v. 20.10.2021 – 201 ObOWi 1273/21
Sachverhalt
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit zu einer Geldbuße von 150 EUR verurteilt sowie ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet. Das BayObLG hat auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und das Verfahren eingestellt.
2 Aus den Gründen:
[…] II. Die gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Einstellung des Verfahrens, da Verfolgungsverjährung eingetreten ist und damit ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis vorliegt.
1. Folgender Verfahrensablauf liegt zugrunde:
Die Zentrale Bußgeldstelle im Bayer. Polizeiverwaltungsamt ermittelte über das KBA die Halterin des Fahrzeugs, mit welchem am 10.4.2020 in München die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 28 km/h überschritten worden sein soll. Ein Mitarbeiter der Halterin, einer GmbH, teilte dem Bayer. PVA den Betroffenen als Fahrer zur Tatzeit mit und gab dabei als Wohnort eine genau bezeichnete Anschrift in Paris an, woraufhin unter dem 29.4.2020 die Anhörung des Betroffenen angeordnet wurde. Unter dem 5.6.2020 wurde ein Bußgeldbescheid erlassen, welcher mittels Einschreiben/Rückschein dem Betroffenen unter der genannten Anschrift in Paris zugestellt werden sollte. Der nicht ausgefüllte Rückschein kam am 15.6.2020 zurück, eine beim Bayer. PVA über das Internet durchgeführte Sendungsverfolgung ließ keinen Grund erkennen, warum die Zustellung nicht erfolgt ist. Mit Verfügung vom 25.6.2020 wurde eine "neue Zustellung veranlasst". Noch bevor eine Nachricht über diesen Zustellungsversuch eintraf, ordnete ein Mitarbeiter der Zentralen Bußgeldstelle im Bayer. Polizeiverwaltungsamt unter dem 7.7.2020 die öffentliche Zustellung des Bußgeldbescheides an. Die Bekanntmachung der Benachrichtigung über das Internetangebot der Bayerischen Polizei erfolgt im Zeitraum vom 8.7.2020 bis zum 22.7.2020, sodass der Bescheid aus Sicht der Behörde am 23.7.2020 als zugestellt galt. Der Verteidiger hat gegen diesen Bußgeldbescheid mit Schriftsatz vom 14.8.2020, beim Bayer. Polizeiverwaltungsamt eingegangen am selben Tag, Einspruch eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, welche ihm durch die Verwaltungsbehörde am 26.8.2020 bewilligt wurde. Am 5.11.2020 wurden die Akten dem Amtsgericht München vorgelegt.
2. Das Verfahren ist wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen (§ 260 Abs. 3 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG), weil bereits vor Eingang der Akten beim Amtsgericht Verfolgungsverjährung (§ 31 Abs. 1 S. 1 OWiG i.V.m. § 26 Abs. 3 S. 1 StVG) eingetreten war.
a. Die Frage, ob Verfolgungsverjährung eingetreten ist, ist als Verfahrensvoraussetzung bzw. als Verfahrenshindernis vom Senat im Rahmen der Rechtsbeschwerde von Amts wegen zu überprüfen (vgl. Göhler/Seitz/Bauer OWiG 18. Aufl. § 31 Rn 17, 19).
b. Die Verjährungsfrist betrug für den verfahrensgegenständlichen Verstoß, bevor ein Bußgeldbescheid ergangen ist, drei Monate (§ 26 Abs. 3 S. 1 StVG). Sie begann am 10.4.2020, dem Tattag (§ 31 Abs. 3 S. 1 OWiG), und wurde nachfolgend durch die Anordnung der Anhörung des Betroffenen am 29.4.2020 unterbrochen (§ 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 OWiG). Da der Bußgeldbescheid vom 5.6.2020 nicht binnen zwei Wochen zugestellt worden ist, konnte er nicht zu einer Unterbrechung der Verjährung nach § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 OWiG führen. Die öffentliche Zustellung des Bescheides am 23.7.2020 erweist sich als unwirksam und konnte damit ebenfalls nicht die Verjährungsunterbrechung nach § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 OWiG bewirken.
Die GenStA München führt hierzu in ihrer Antragsschrift vom 20.9.2021 im Wesentlichen Folgendes aus:
Die Verwaltungsbehörde hat es für die Anordnung nämlich ausreichen lassen, dass der (einmalige) Versuch einer Zustel...