VVG § 19 Abs. 4
Leitsatz
1. Das Erfordernis einer gesonderten Belehrung über die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung bei Beantragung einer Berufsunfähigkeitsversicherung ist nur dann gewahrt, wenn die Belehrung in unmittelbarer Nähe zu den Gesundheitsfragen erfolgt und so gefasst ist, dass sie ein durchschnittlich aufmerksamer VN schlechterdings nicht übersehen kann.
2. Fragt der VR nach "Krankheiten oder Beschwerden" muss ein bloßes Lampenfieber unterhalt der Schwelle zur krankhaften Prüfungsangst nicht angegeben werden, auch wenn es Anlass dafür war, einen Arzt aufzusuchen.
3. Kann der VN zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft machen, einen in der Vergangenheit erfolgten Arztkontakt vergessen zu haben, kann ihm auch dann keine Verletzung der Anzeigepflicht vorgeworfen werden, wenn er es fahrlässig unterlassen hat, sein Erinnerungsvermögen durch Einsicht in vorhandene Unterlagen oder Rückfragen bei Dritten angespannt zu haben.
(Leitsatz der Schriftleitung)
OLG Dresden, Urt. v. 6.12.2022 – 4 U 1215/22
1 Sachverhalt
Die Kl. nimmt die Bekl. auf Leistungen aus einer am 25.6.2013 policierten Berufsunfähigkeitszusatzversicherung in Anspruch. Am 18.6.2013 beantragte sie bei der Bekl. den Abschluss einer Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeit-Zusatzversicherung. Die Kl. vermittelte sich diesen Vertrag selbst und füllte den Antrag auch selbst aus, wobei sie die Gesundheitsfragen jeweils verneinte. Am 20.2.2016 stellte die Kl. einen Leistungsantrag. Die Bekl. nahm Ermittlungen zu ihrem Gesundheitszustand auf und sprach mit Schreiben vom 10.10.2016 eine rückwirkende Vertragsanpassung aus, mit der Ansprüche wegen Berufsunfähigkeit rückwirkend ab Vertragsbeginn aus dem Versicherungsschutz ausgeschlossen wurden, sofern psychische und/oder psychosomatische Erkrankungen oder nachgewiesene Folgen dieses Leidens die Ursache der Berufsunfähigkeit bilden.
Das LG hat ausgeführt:
Die Kl. sei auf der Grundlage der Feststellungen des SV als bedingungsgemäß berufsunfähig wegen einer psychischen Erkrankung anzusehen. Sie habe zwar objektiv Falschangaben im Rahmen des Versicherungsantrages gemacht, indem sie verschwiegen habe, dass sie im Zeitraum zwischen Juni und September 2008 und damit im nach den Antragsunterlagen maßgeblichen Fünf-Jahres-Zeitraum von ihrer Hausärztin eine Überweisung zu einem Psychotherapeuten erhalten und von diesem anschließend in fünf probatorischen Sitzungen untersucht worden sei, bevor dieser entschieden habe, dass eine Behandlung des Lampenfiebers, das Anlass für die Überweisung gewesen sei, nicht erforderlich sei. Hierin liege eine nach den Antragsfragen mitteilungspflichtige Behandlung, Die Kl. sei auch ordnungsgemäß über ihre vorvertragliche Anzeigepflicht beiehrt worden. Die Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflichten sei aber gemäß § 19 Abs. 4 Satz 2 VVG unverschuldet erfolgt. Die Kl. habe sich sowohl gegenüber ihrer Hausärztin als auch bei der Beantwortung der Antragsfragen auf die Einschätzung des Psychologen S. verlassen dürfen, dass sie nicht an einer psychischen Krankheit leide.
2 Aus den Gründen:
1. Dass die Kl. infolge einer posttraumatischen Belastungsstörung auf Dauer zu mehr als 50 % in ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt und damit berufsunfähig im Sinne der Versicherungsbedingungen ist, steht aufgrund der erstinstanzlichen Beweisaufnahme … fest.
2. Das LG hat auch zutreffend angenommen, dass die von der Bekl. ausgesprochene Vertragsänderung nicht rückwirkend zu einer Anpassung des Versicherungsvertrages mit Wirkung auch für den streitgegenständlichen Leistungsfall gefühlt hat.
a. Allerdings liegen die formellen Voraussetzungen für eine solche Anpassung vor. Die Bekl. hat die Anpassung am 10.10.2016 und damit innerhalb eines Monats nach Kenntnis von den ärztlichen Behandlungen der Kl. im Fünf-Jahreszeitraum vor Antragstellung (14.6.2008-13.6.2013) durch die Auskunft der xxx vom 5.9.2016 (Eingang bei der Bekl.: 12.9.2016) erklärt (§ 21 Abs. 1 VVG). Auch ist die Kl. in Textform und hinreichend hervorgehoben über die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung aufgeklärt worden (§ 19 Abs. 5 VVG). Das Erfordernis einer gesonderten Mitteilung über die Folgen einer Anzeigeverletzung ist bei einer Belehrung auf dem Antragsformular – wie sie hier gegeben ist – zwar nur gewahrt, wenn die Belehrung in unmittelbarer Nähe zu den Gesundheitsfragen erfolgt und drucktechnisch so hervorgehoben wird, dass sie ein durchschnittlich aufmerksamer VN schlechterdings nicht übersehen kann (…). Diese Anforderungen sind hier jedoch erfüllt. Auch inhaltlich entspricht die Belehrung den in der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen, insbesondere enthält sie auch einen Hinweis auf die Möglichkeit eines rückwirkenden Leistungsausschlusses bei einer Anzeigepflichtverletzung (zu diesem Erfordernis vgl. Senat, Urt. v. 6.6.2017 – 4 U 1460/16 – juris). …
b. Vorliegend fehlt es jedoch an einem Anpassungsgrund im Sinne des § 19 Abs. 4 S. 2 VVG. Hiernach ist der VR zur Vertragsanpassung berechtigt, wenn ein Rücktrittsgrund nach § 19 Abs. 2 VVG oder ein Kündigu...