BGB § 844 Abs. 3; StVG § 10; ZPO § 287
Leitsatz
1. Die Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung ist grundsätzlich Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Er hat die konkrete seelische Beeinträchtigung des betroffenen Hinterbliebenen zu bewerten und hierbei die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen. Ähnlich wie beim Schmerzensgeld sind dabei sowohl der Ausgleichs- als auch der Genugtuungsgedanke in den Blick zu nehmen.
2. Maßgebend für die Höhe der Hinterbliebenenentschädigung sind im Wesentlichen die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung indizielle Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids ableiten.
3. Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannte Betrag in Höhe von 10.000 EUR (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt keine Obergrenze dar.
4. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diente dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen. Der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag muss deshalb im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte.
BGH, Urt. v. 6.12.2022 – VI ZR 73/21
1 Sachverhalt
[1] Die Klägerin nimmt den beklagten Haftpflichtversicherer auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in Anspruch.
[2] Am 13.12.2018 wurde der 81-jährige Vater der Klägerin bei einem Verkehrsunfall getötet. Der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Pkw hatte bei der Ausfahrt von einem Parkplatz den vorfahrtsberechtigten Pkw des Vaters der Klägerin übersehen. Der Vater der Klägerin verstarb noch am Unfallort. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht zwischen den Parteien außer Streit. Der Unfallgegner wurde mit rechtskräftigem Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung mit Strafvorbehalt verwarnt.
[3] Zwischen der Klägerin und ihrem Vater bestand eine enge emotionale Verbundenheit. Die Klägerin verfügte über sämtliche Vollmachten ihres Vaters, außerdem war sie die erste Ansprechpartnerin, wenn es für ihren Vater "etwas zu regeln" gab. Jedenfalls bis zur mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz litt die Klägerin unter Schlafstörungen, die zumindest auch auf den plötzlichen Unfalltod ihres Vaters zurückzuführen sind.
[4] Vorgerichtlich zahlte die Beklagte der Klägerin ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 3.000 EUR. Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Zahlung eines in das Ermessen des Gerichts gestellten weiteren Hinterbliebenengeldes, mindestens jedoch 7.000 EUR.
[5] Das Landgericht hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zur Zahlung von 3.500 EUR verurteilt. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert, soweit die Klage abgewiesen worden war, und die Beklagte zur Zahlung von weiteren 3.500 EUR verurteilt. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
2 Aus den Gründen:
[6] I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil unter anderem in DAR 2021, 332 veröffentlicht ist, steht der Klägerin für das durch den Unfalltod ihres Vaters erlittene seelische Leid eine angemessene Entschädigung aus § 10 Abs. 3 StVG zu. Maßstab für die Bemessung der geschuldeten Entschädigung sei die konkrete Beeinträchtigung. Durch den Verlust naher Angehöriger könnten seelische Beeinträchtigungen von besonderer Komplexität verursacht werden. Die Dauer von seelischem Leid sei nicht prognostizierbar. Wie beim Schmerzensgeld seien sowohl die Ausgleichs- als auch die Genugtuungsfunktion zu berücksichtigen. Der in der Kostenschätzung des Gesetzentwurfs genannte Betrag von 10.000 EUR stelle keine "Obergrenze", sondern einen "Anker" bzw. eine "Orientierungshilfe" für die Bemessung dar. Eine Auslegung des Hinterbliebenengeldes als Minus gegenüber dem Anspruch auf Ersatz eines Schockschadens werde der Differenzierung zwischen körperlich/psychischem und seelischem Leid nicht gerecht. Es handele sich um zwei unterschiedliche, in keinem Stufenverhältnis stehende Ansprüche. Während das Schmerzensgeld wegen eines Schockschadens pathologische psychische Schmerzen ausgleichen solle, gehe es beim Hinterbliebenengeld um die Abgeltung von Trauer und Betroffenheit der Seele. Andauernde seelische Schmerzen könnten aber eine gleichwertige oder sogar – je nach Dauer und Intensität – höhere Betroffenheit auslösen. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes müsse sich außerdem in das stimmige Gesamtgefüge der deutschen und europäischen ...