StVG § 7 § 17 Abs. 2; StVO § 1 Abs. 2 § 3 Abs. 1 S. 2
Leitsatz
1. Die Gefahr, die von einer gerade entleerten Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen. (Rn 16)
2. Lässt sich beim Vorbeifahren an einem Müllabfuhrfahrzeug ein ausreichender Seitenabstand, durch den die Gefährdung eines plötzlich vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortretenden Müllwerkers vermieden werden kann, nicht einhalten, so ist die Geschwindigkeit gemäß § 1, § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO so weit zu drosseln, dass der Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann. (Rn 23)
BGH, Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 77/23
1 Sachverhalt
[1] Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend, bei dem eines ihrer Pflegedienstfahrzeuge beschädigt wurde.
[2] Die Zeugin M., Mitarbeiterin der Klägerin, fuhr mit deren Fahrzeug aus der Gegenrichtung kommend an einem Müllabfuhrfahrzeug des Beklagten zu 2 vorbei, das mit laufendem Motor, laufender Trommel/Schüttung und eingeschalteten gelben Rundumleuchten sowie Warnblinkanlage in der Straße stand. Dabei kam es zu einer Kollision des klägerischen Fahrzeugs mit einem Müllcontainer, den der vormalige Beklagte zu 1, Angestellter des Beklagten zu 2, hinter dem Müllabfuhrfahrzeug quer über die Straße schob.
[3] Mit der Klage hat die Klägerin Erstattung der Fahrzeugreparaturkosten nebst vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten und Zinsen verlangt.
[4] Das Landgericht hat der Klage gegen den Beklagten zu 2 unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 50 : 50 teilweise stattgegeben.
[5] Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts teilweise abgeändert und den Beklagten zu 2 unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 75 : 25 zu weiterem Schadensersatz verurteilt.
[6] Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Beklagte zu 2 die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
2 Aus den Gründen:
[7] I. Das Berufungsgericht hat die Haftungsquote von 75 (Beklagter zu 2) zu 25 (Klägerin) damit begründet, dass der Zeugin M. entgegen der Ansicht des Landgerichts kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen sei. Die Klägerin müsse sich deshalb lediglich die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs anrechnen lassen.
[8] Der Leerungsvorgang von Mülltonnen und hier das Fortschaffen des entleerten Müllcontainers vom Müllabfuhrfahrzeug gehöre zum Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG. Der Beklagte zu 1 habe schuldhaft gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen, weil er den Müllcontainer quer über die Straße geschoben habe, ohne auf das nach den Feststellungen des Sachverständigen erkennbare Fahrzeug der Klägerin zu achten. Die Privilegierung des § 35 Abs. 6 StVO für Müllabfuhrfahrzeuge befreie nicht vom allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 StVO. Der Zeugin M. sei kein Verkehrsverstoß anzulasten. Die Beweislast liege insoweit beim Beklagten zu 2. Zwar sei Müllabfuhrfahrzeugen gegenüber besondere Vorsicht geboten. Die Annahme anderer Obergerichte, dass an Müllabfuhrfahrzeugen stets oder zumindest in der Regel mit Schrittgeschwindigkeit und mit einem Sicherheitsabstand von 2 Metern vorbeizufahren sei, ließe sich aber auf § 1 Abs. 2 StVO und § 3 Abs. 1 StVO nicht stützen. Maßgeblich seien die Umstände des Einzelfalls. Im Hinblick darauf, dass das Müllabfuhrfahrzeug erkennbar im Einsatz und eine Vorbeifahrt nur mit geringem Seitenabstand (50 cm) möglich gewesen sei, sei die Zeugin verpflichtet gewesen, die gefahrene Geschwindigkeit deutlich zu reduzieren. Dies habe sie getan, indem sie statt der am Unfallort zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h nur 13 km/h gefahren sei. Eine höhere Geschwindigkeit stehe nicht fest. Die Geschwindigkeit von 13 km/h sei hier ausreichend gering, zumal der Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt sei, dass der Unfall bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von unter 14 km/h räumlich vermeidbar gewesen wäre. Dafür, dass die Klägerin nicht zu schnell gefahren sei, spreche auch der Umstand, dass es für den Beklagten zu 1 auf der Hand gelegen habe, dass ein etwaig vorbeifahrender Verkehrsteilnehmer ihn und den Müllcontainer zunächst nicht sehen könne. Hätte der Beklagte zu 1 zunächst geschaut oder etwa die Tonne gezogen statt sie zu schieben, hätte er die Zeugin womöglich rechtzeitig gesehen. Auch dies sei bei der Frage zu bedenken, ob der Zeugin ein Verstoß gegen §§ 1, 3 StVO vorzuwerfen sei. Bei aller gebotenen Vorsicht bei der Vorbeifahrt an einem im Einsatz befindlichen Müllabfuhrfahrzeug müsse nicht mit jedwedem Fehlverhalten der Müllwerker gerechnet werden. Es sei nicht erwiesen, dass die Zeugin den Beklagten zu 1 bereits bei Herannahen gesehen habe oder dass sie damit habe rechnen müssen, dass ohne Weiteres plötzlich ein Müllcontainer hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervorgeschoben würde, was ein Absehen vom Passieren oder zumindest die Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit geboten hätte.
[9] Auf Beklagtenseite könne zwar zuzubilligen sein, dass Müllwerker im Einsatz die Sorgfaltsp...