BGB § 253; ZPO § 286 § 288
Leitsatz
1) Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Richters vom Vorliegen einer Primärverletzung kann nicht durch ein ärztliches Attest begründet werden, das lediglich die Darstellung des Patienten über seine Verletzung wieder gibt oder in der Sache nur eine Verdachtsdiagnose darstellt. Vielmehr bedarf es sachverständiger Feststellungen einer unfallbedingten Primärverletzung.
2) Das Vorliegen einer unfallbedingten Halswirbelsäulenverletzung kann nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, dass eine zusammenstoßbedingte Geschwindigkeitsänderung von weniger als 10 km/ h ausgelöst worden ist. Eine solche "Harmlosigkeitsgrenze" kann nicht anerkannt werden, da bei der Prüfung der Kausalität des Zusammenstoßes neben der Geschwindigkeitsänderung auch u.a. die Sitzposition eine Rolle spielen kann.
OLG Frankfurt, Urt. v. 28.2.2008 – 4 U 238/06
Sachverhalt
Nach einem Unfall nahm die Klägerin die Beklagte auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aus einem Auffahrunfall mit der Behauptung in Anspruch, sie habe unfallbedingt eine HWS-Distorsion erlitten. Das LG wies die Klage überwiegend ab und ging hierbei davon aus, dass die Klägerin lediglich eine traumatische lumbale Wurzelirritation erlitten habe, die lediglich ein Schmerzengeld von 500 EUR rechtfertige und keine Grundlage für die weiterhin geltend gemachten Arzt- und Arzneimittelkosten bilde. Die Berufung der Klägerin hatte weitgehend Erfolg.
Aus den Gründen
“Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. In der Sache hat die Berufung weitgehend Erfolg und führt zur Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung. Die Beklagte ist der Klägerin zur Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe von insgesamt 7.014,83 EUR und eines Schmerzensgeldes in Höhe von insgesamt 1.250 EUR gem. den §§ 7, 17 StVG, § 253 BGB, § 3 Abs. 1 Pflichtversicherungsgesetz verpflichtet.
Die grundsätzliche Alleinhaftung der Beklagten für den von ihrem Versicherungsnehmer verursachten Auffahrunfall am 25.2.2004, 16.00 Uhr, in der S-Straße in O, der Klägerin entstandenen Schaden ist zwischen beiden Parteien unstreitig. Dementsprechend sind neben dem von der Klägerin geltend gemachten Sachschaden an dem Pkw BMW X5 auch die Arztrechnungen des Dr. I v. 1.4.2004 über 1.252,54 EUR sowie vom 3.5.2004 über 907,72 EUR, die Rechnung des Prof. Dr. B vom 11.3.2004 über 119,37 EUR und Apothekenrechnungen in Höhe von 129,92 EUR einvernehmlich in voller Höhe von der Beklagten reguliert worden.
Die Beklagte hat über den bereits durch das landgerichtliche Urt. v. 12.10.2006 zuerkannten Betrag von 45,55 EUR hinaus der Klägerin aber auch die Arzt- und Apothekenaufwendungen für die Zeit von Mai bis September 2004 in Höhe von insgesamt 6.969,28 EUR zu erstatten. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur hinreichenden Überzeugung des Senats fest, dass auch die ärztlichen Behandlungen der Klägerin ab Mai 2004 durch den am 25.2.2004 erlitten Verkehrsunfall verursacht wurden.
Beim Ausgleich für angeblich unfallbedingte Verletzungen ist zwischen dem Nachweis, dass der Unfall zu einer Primärverletzung und damit zu einer Körperverletzung der Klägerin geführt hat (haftungsbegründende Kausalität) und der Ermittlung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Haftungsgrund und den weiter eingetretenen Schäden (haftungsausfüllende Kausalität) zu unterscheiden. Der Nachweis des Haftungsgrundes unterliegt den strengen Anforderungen des Vollbeweises gem. § 286 ZPO. Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine “an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit’, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln schweigen gebietet (BGH-NJW 2003, 1116, 1117). Ärztliche Atteste, die lediglich nur die Darstellung des Betroffenen wiedergeben oder in der Sache nur eine Verdachtsdiagnose darstellen, können allein diese Überzeugung nicht rechtfertigen (Geigel/Rixecker, Der Haftpflichtprozess, 23. Aufl. 2001, Kap. 37, Rn 49). Es bedarf insoweit regelmäßig medizinischer und technischer Beratung durch Sachverständige, deren tatsächliche Grundlagen rechtzeitig zu sichern sind. Ob über eine festgestellte Primärverletzung hinaus der Unfall auch für die Beschwerden der Klägerin ursächlich geworden ist, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die sich gem. § 287 ZPO beurteilt. Bei der Ermittlung dieses Kausalzusammenhangs zwischen dem Haftungsgrund und dem eingetretenen Schaden unterliegt der Tatrichter nicht mehr den strengen Anforderungen des § 286 ZPO; vielmehr ist er nach Maßgabe des § 287 ZPO freier gestellt (BGH a.a.O.).
Unter Anwendung dieser Beweismaßgrundsätze ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass der Auffahrunfall vom 25.2.2004 bei der Klägerin zu einer HWS-Distorsion als Primärverletzung geführt hat. Diese Überzeugung von einem ersten unfallbedingten Verletzungserfolg findet eine erste Grundlage in den Aufnahmebericht der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfu...