Eine wesentlich bedeutendere Rolle in der aktuellen gerichtlichen Praxis spielen demgegenüber Befunderhebungsmängel. Die Zurückhaltung der Rechtsprechung bei der Bewertung von Fehldiagnosen als Behandlungsfehler wird in diesem Bereich nicht an den Tag gelegt. Gerade weil die aufgetretenen Symptome i.d.R. mehrere Ursachen haben, wird von einem Arzt verlangt, seine zunächst gestellte Verdachtsdiagnose selbstkritisch zu überprüfen und bei Anhaltspunkten für deren Unrichtigkeit weitergehende diagnostische Maßnahmen zu ergreifen.
So kann beispielsweise die fehlerhafte Deutung eines Röntgenbilds als ein Befunderhebungsmangel und nicht nur als Diagnosefehler angesehen werden. Insbesondere ist nach einer sturzbedingten Handverletzung eine Röntgendiagnostik zur Abklärung einer eventuellen Fraktur erforderlich. Auch darf bei eindeutigen Anzeichen einer spinalen Schädigung ohne ausreichende Diagnostik zum Ausschluss einer neurologischen Erkrankung nicht lediglich mit einer Physiotherapie über einen längeren Zeitraum begonnen werden. Demgegenüber wurde entschieden, dass keine generelle hausärztliche Pflicht zur Blutdruckmessung besteht, wenn kein Zusammenhang zum Vorstellungsgrund besteht.
Steht nach der Beweisaufnahme fest, dass eine medizinisch erforderliche Befunderhebung unterlassen wurde, wird zugunsten des Patienten vermutet, dass der fragliche Befund ein aus medizinischer Sicht reaktionspflichtiges Ergebnis gehabt hätte, wenn letzteres hinreichend wahrscheinlich ist. Die neuere Rechtsprechung geht dann von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines reaktionspflichtigen Ergebnisses aus, wenn dieses bei Erhebung des entsprechenden Befundes mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % zu erwarten gewesen wäre. Die Beweiserleichterung bezieht sich nur auf das Ergebnis der unterlassenen Befunderhebung, nicht auf die Kausalität für den später eingetretenen Schaden. Der Patient soll nur so gestellt werden, als wären die Befunde tatsächlich eingeholt worden und als hätten diese ein reaktionspflichtiges Ergebnis aufgewiesen.
Grundsätzlich führt ein Befunderhebungsmangel aber dann zu einer Beweiserleichterung oder gar Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden, wenn ein reaktionspflichtiges Ergebnis hinreichend wahrscheinlich ist und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde. In der forensischen Praxis ist gerade diese Beweislastumkehr von außerordentlicher Bedeutung. Ist bereits das Unterlassen der Befunderhebung selbst grob fehlerhaft, führt dies grundsätzlich ebenfalls zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs. Das Unterlassen der gebotenen Therapie ist insoweit keine Voraussetzung für die Beweiserleichterung.