Den Kern des Arzthaftungsrechts bilden in der aktuellen Spruchpraxis nach wie vor die zahlreichen von der Judikatur entwickelten Beweiserleichterungen, deren Kenntnis und korrekte Anwendung auf den entsprechenden Fall für den Praktiker unverzichtbar ist.
1. Voll beherrschbare Risiken
Der Arzt bzw. der Krankenhausträger hat sich nach dem Rechtsgedanken des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB bzw. § 282 BGB a.F. nicht nur von einer Verschuldens- sondern auch von einer Fehlervermutung zu entlasten, wenn feststeht, dass die Schädigung aus einem Feld herrührt, dessen Gefahren medizinisch voll beherrscht werden können und müssen. Die Bedeutung dieser Beweisregel erstreckt sich insbesondere auf die Organisation und Koordination des medizinischen Geschehens sowie auf den technisch-apparativen Bereich.
Beispielsweise tragen bei den häufig zu neurologischen Beeinträchtigungen führenden Lagerungsschäden nach Operationen aufgrund der Beweislastumkehr der Krankenhausträger und die behandelnden Ärzte die Beweislast dafür, dass der Patient zur Vermeidung der Lagerungsschäden sorgfältig und richtig auf dem Operationstisch gelagert und dies auch kontrolliert wurde. Dagegen rechtfertigt das bloße Auftreten eines Druckgeschwürs (Dekubitus) nicht zwangsläufig eine Beweislastumkehr, da dieses als Nebenfolge des operativen Geschehens nicht immer vermeidbar ist. Im Einzelfall ist zu prüfen, ob eine voll beherrschbare Komplikation vorlag, was zumindest bei mangelnder Dekubitusprophylaxe, d.h. Nichtwahrung des fachpflegerischen Standards, der Fall sein dürfte. Auch Selbstschädigungen bis hin zum Suizid von Patienten sind je nach Einweisungsdiagnose nicht immer zu vermeiden. Ein Suizidversuch kann daher nicht zwangsläufig als Indiz für eine Pflichtwidrigkeit des Arztes bzw. Krankenhausträgers gesehen werden. Hinsichtlich der ärztlichen Entscheidung, ob nach ausreichender Befunderhebung eine akute Suizidneigung vorliegt, ist ein Entscheidungsspielraum anzuerkennen. Liegt eine erkennbar erhöhte, akute oder konkrete Suizidgefahr vor, sind allerdings konkrete Maßnahmen zum Schutz des Patienten durch Überwachung und Sicherung erforderlich. Gesteigerte Obhutspflichten bestehen grundsätzlich zur Vermeidung von Stürzen des Patienten bei ärztlichen bzw. pflegespezifischen Maßnahmen. Beweiserleichterungen nach der Fallgruppe des "voll beherrschbaren Risikos" kommen allerdings nur dann in Betracht, wenn sich der Sturz während einer konkreten Bewegungs- oder Transportmaßnahme oder im Rahmen einer ärztlichen oder pflegerischen Handlung ereignet hat. Bettgitter sind aufgrund ihres freiheitsentziehenden Charakters nur anzubringen, wenn besondere Umstände dies erfordern.
2. Anscheinsbeweis
Dem Anscheinsbeweis kommt im Arzthaftungsprozess nur eine unbedeutende Rolle zu. Typische Geschehensabläufe, die nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hindeuten, sind wegen der Unwägbarkeiten des menschlichen Körpers äußerst selten.
So gibt es keinen Erfahrungssatz, dass eine seltene Komplikation auf einen ärztlichen Fehler zurückzuführen ist. Selbst bei engem zeitlichem Zusammenhang zwischen einer Injektion und dem Auftreten eines Spritzenabszesses spricht kein Anscheinsbeweis für eine mangelhafte Desinfektion, wenn nicht festgestellt wurde, dass die erforderlichen Desinfektionsmaßnahmen nicht beachtet wurden. Im zahnärztlichen Bereich kann von der nach einer eingeleiteten Leitungsanästhesie aufgetretenen Schädigung des Nervus lingualis nicht auf einen Behandlungsfehler geschlossen werden.
Dagegen wurde in einem aktuellen ...