GG Art. 2 Abs. 1; StVO § 45 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 9 S. 1; Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Ausgabe 2010)
Leitsatz
Auf der Grundlage von § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 9 StVO können auch temporäre Radfahrstreifen angeordnet werden, die erforderlich sind, um konkreten Gefährdungslagen entgegenzuwirken, die aus einer Verstärkung des Radverkehrs aufgrund der Corona-Pandemie entstehen. Ein allgemeines Recht auf Fortbewegung "in gewohnter Weise" folgt aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht.
(Leitsatz der Schriftleitung)
OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 6.1.2021 – OVG 1 S 115/20
Sachverhalt
Das OVG Berlin-Brandenburg hat mit dem nachfolgenden Beschl. entschieden, dass die temporären Radfahrstreifen (sog. Pop-up-Radwege) im Berliner Stadtgebiet vorerst nicht zurückgebaut werden müssen. Damit hat es auf die Beschwerde des Landes Berlin den Beschl. des VG Berlin v. 4.9.2020 – 11 L 205/20 (DAR 2020, 651) aufgehoben, dessen Vollziehung bereits im Oktober 2020 vorläufig ausgesetzt worden war (OVG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 6.10.2020 – OVG 1 S 116/20, NZV 2021, 166 mit Anm. Will). Die straßenverkehrsbehördlichen Anordnungen sind danach bei summarischer Prüfung rechtmäßig, denn ausweislich der erstmals im Beschwerdeverfahren eingereichten Unterlagen und Beweismittel (Verkehrszählungen, Unfallstatistiken) sind für alle streitgegenständlich gebliebenen Straßenabschnitte die tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 45 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 9 S. 1 StVO erfüllt. Zugleich sind die Ermessenserwägungen nicht mehr zu beanstanden.
2 Aus den Gründen:
"… II."
[23] Die zulässige Beschwerde ist begründet. (…)
[26] 2. Die straßenverkehrsbehördlichen Anordnungen sind – die (streitige) Frage der Antragsbefugnis des ASt. (§ 42 Abs. 2 VwGO analog) ebenfalls unterstellt – bei summarischer Prüfung rechtmäßig, denn ausweislich der erstmals im Beschwerdeverfahren eingereichten Unterlagen sind für alle streitgegenständlich gebliebenen Straßenabschnitte die tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 45 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 9 S. 1 StVO erfüllt. Zugleich hat der AG seine Ermessenserwägungen für die Straßenabschnitte Hallesches Ufer zwischen Hallesches Tor und Köthener Straße, Kottbusser Damm/Kottbusser Straße zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz, Lichtenberger Straße zwischen Holzmarktstraße und Strausberger Platz, Tempelhofer Ufer zwischen Schöneberger Straße und Halleschem Tor, Schöneberger Ufer zwischen Potsdamer Brücke und Köthener Straße sowie Kantstraße und Neue Kantstraße zwischen Messedamm und Budapester Straße in zulässiger Weise mit Schriftsatz (…) ergänzt. Die für den Straßenabschnitt Gitschiner Straße/Skalitzer Straße getroffene und mit Schriftsatz v. 7.10.2020 übermittelte neue Sachentscheidung des AG ist im Beschwerdeverfahren ebenfalls zu berücksichtigen und das Ermessen auch insoweit in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt worden.
[27] a) Nach § 45 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 9 S. 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken; entsprechende Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Die für die straßenverkehrsrechtliche Gefahrenprognose erforderlichen Tatsachengrundlagen, die erstinstanzlich nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden waren, hat der AG im Beschwerdeverfahren jeweils durch Nachreichung geeigneter Beweismittel (Verkehrszählungen, Unfallstatistiken) belegt. (…)
[28] Zur Beurteilung der Gefahrenlage aufgrund von Verkehrsstärken in Relation zu den gefahrenen Geschwindigkeiten hat die Beschwerde auf die Kriterien der Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Ausgabe 2010) zurückgegriffen, denen als fachlich anerkanntes Regelwerk ein entsprechender Sachverstand und Erfahrungswissen entnommen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.11.2010 – 3 C 42.09 [zfs 2011, 234 =] juris Rn 27; Senatsurt. v. 14.2.2018 – OVG 1 B 25.15 – juris Rn 22, und v. 20.3.2019 – OVG 1 B 3.18 – n.v.). Danach spricht bei summarischer Prüfung Überwiegendes dafür, dass jedenfalls auf den Straßenzügen, die im Rahmen der “Vorauswahl von geeigneten (Radverkehr-)Führungsformen' den Belastungsbereichen III oder IV zuzuordnen sind (ERA 2010, Ziff. 2.3), das Trennen des Radverkehrs vom Kraftfahrzeugverkehr aus Sicherheitsgründen gefordert ist (ERA 2010, Ziff. 2.3.3). Das betrifft mit Ausnahme der dem Belastungsbereich II zugeordneten Teilabschnitte der Kottbusser Straße sowie der Kantstraße zwischen der Suarezstraße und der Ostseite des Savignyplatzes alle streitig gebliebenen Straßenabschnitte. Dazu gehört auch der Straßenabschnitt Gitschiner Straße/Skalitzer Straße zwischen Halleschem Tor und Kottbusser Straße, der ebenfalls dem Belastungsbereich III zugeordnet ist. Die insoweit innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist eingereichte neue und erstmals mit zutreffenden verkehrsbezoge...