1. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Beschluss das Recht des Betroffenen auf vollumfängliche Akteneinsicht und Informationszugang in Verkehrsbußgeldsachen gestärkt. Um Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Messfehlers bei standardisierten Geschwindigkeitsmessungen zu ermitteln, hat der Betroffene einen Anspruch auf Einsichtnahme auch in außerhalb der Bußgeldakte befindliche Informationen. Wird ihm dies verweigert, ist das Recht auf ein faires Verfahren verletzt. Mit diesen Informationen haben Betroffene deutlich bessere Möglichkeiten, die Rechtmäßigkeit eines gegen sie ergangenen Bußgeldbescheids zu überprüfen.
2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weicht erheblich von der vorherigen Linie diverser Oberlandesgerichte ab, die eine Akteneinsicht nur im Rahmen von § 147 StPO gewähren wollten, soweit Unterlagen sich bei den Akten befanden.
3. Es hinterlässt einen faden Beigeschmack, dass es von einigen Oberlandesgerichten bei vorhandener abweichender Rechtsprechung untereinander jahrelang abgelehnt wurde, die Sache dem BGH für eine bundeseinheitliche Entscheidung vorzulegen. Vorboten für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gab es bereits vonseiten diverser Landesverfassungsgerichtshöfe.
4. Betroffene sollten neben den üblicherweise vorliegenden Dokumenten, wie Eichschein, Messprotokoll, Befähigungsnachweis(e) der Messbeamten, auch z.B. auf Übersendung der Rohmessdaten, ggf. der gesamten Messreihe, und der Bedienungsanleitung bestehen, sie können dazu die Aussetzung des Verfahrens bei laufenden Bußgeldverfahren beantragen; wird ihnen dies verweigert, so bestehen Erfolgsaussichten im Rahmen der Rechtsbeschwerde gem. § 79 OWiG für die Geltendmachung eines Verfahrensfehlers.
5. Es bleibt abzuwarten, wie Amtsgerichte sich auf die neue Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einstellen und ob sie gewillt sind, ihre bisherige ablehnende Haltung im Hinblick auf ergänzende Informationen zum Messvorgang aufzugeben oder nur neue kreative Hürden hervorbringen. Es sind bereits bei einigen Gerichten Schriftblöcke im Umlauf, aus denen hervorgeht, dass sie ergänzende Informationen zum Vorgang tendenziell zurückhalten und eine Verzögerung durch eine ergänzende Akteneinsicht vermeiden wollen
6. Eine Einschränkung der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege ist bei Umsetzung des Rechts auf Informationszugang bei massenhaft vorkommenden Verkehrsdelikten nicht zu erwarten, ggf. notwendig werdende Terminsverlegungen, Verfahrensaussetzungen und Verlängerung der Verfahrensdauer muss und wird der Rechtsstaat verdauen.
7. Auch für das öffentlich-rechtliche Verkehrsrecht hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Konsequenzen. Das OVG Saarlouis hat zutreffend entschieden, dass Mängel bei der Speicherung der Rohmessdaten sich im zugrundeliegenden Bußgeldverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen auf verwaltungsrechtliche Folgen der Verfehlung auswirken. Nahe liegt, dass auch eine fehlende umfassende Akteneinsicht dazu führt, dass keine Fahrtenbuchauflage angeordnet werden darf. Allerdings wird sich der Betroffene darauf einstellen müssen, dass er das gewünschte Ergebnis nicht gleich in erster Instanz erzielen wird.
Autor: Rechtsanwalt Dr. Ingo E. Fromm, Koblenz
zfs 5/2021, S. 250 - 254