A. Einführung

Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18,[3] zum Umfang des Akteneinsichtsrechts des Betroffenen in Bußgeldverfahren auseinandergesetzt. Die klarstellende Entscheidung ist aus Betroffenensicht sehr zu begrüßen. Sie war angesichts vieler abweichender Entscheidungen zu dieser Thematik in der jüngsten Rechtsprechung längst überfällig. Die aufgeworfene Frage nach der Reichweite eines ungeschriebenen Rechts auf Beiziehung von und Einsicht in behördliche Unterlagen zur technischen Verlässlichkeit standardisierter Messverfahren gehört zu den umstrittensten Themen im Verkehrsbußgeldverfahren. Der vorliegende Beitrag stellt die Entscheidung vor, ordnet sie in die vorhergehende Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichtshöfe ein und setzt sich mit den Konsequenzen der Rechtsprechung auseinander. Ferner werden die verkehrsverwaltungsrechtlichen Auswirkungen geprüft.

[3] NZV 2021, 41.

B. Sachverhalt und Verfahrensablauf

Dem Betroffenen war in dem – der Entscheidung des BGH – zugrundeliegenden Fall vorgeworfen worden, die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h überschritten zu haben. Gemessen wurde die Geschwindigkeitsüberschreitung mit dem Messgerät PoliScan Speed M1 des Herstellers Vitronic. Der Beschwerdeführer hatte in einem Bußgeldverfahren Akteneinsicht 1. in die gesamte Verfahrensakte, 2. eine ggf. vorhandene Videoaufzeichnung, 3. den ggf. vorhandenen Messfilm, 4. ggf. die Rohmessdaten der gegenständlichen Messung in unverschlüsselter Form (…), 5. in die sog. "Lebensakte" (…), 6. in die Bedienungsanleitung des Herstellers des verwendeten Messgerätes (…), 7. in den Eichschein des verwendeten Messgerätes, 8. in den Ausbildungsnachweis des Messbeamten – und/oder 9. sonstige Beweisstücke beantragt. Einige der begehrten Unterlagen, aus denen sich nach Auffassung des Betroffenen Argumente für die technische Fehlerhaftigkeit der zugrundeliegenden Geschwindigkeitsüberschreitung ergeben sollten, wollten weder die Bußgeldstelle noch später das Amtsgericht herausgeben, da einige der weiteren geforderten Unterlagen nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien und nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt würden. Auch das OLG Bamberg[4] half im Rahmen der eingelegten Rechtsbeschwerde nicht ab. Zur Begründung verwies das OLG auf die angeblich "seit Jahrzehnten gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs". Die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich, das Urteil des Amtsgerichts Hersbruck v. 14.12.2017 – 5 OWi 708 Js 110716/17[5] – und der Beschl. des OLG v. 19.6.2018 – 3 Ss OWi 672/18 – wurden aufgehoben und die Sache wurde an das Amtsgericht Hersbruck zurückverwiesen.

[4] OLG Bamberg, BeckRS 2018, 54681.
[5] AG Hersbruck, BeckRS 2017, 163491.

C. Zentrale Feststellungen des BVerfG

Das BVerfG hat entschieden, dass der Betroffene Anspruch auf Zugang zu den von ihm begehrten Informationen habe. Alles andere sei nicht mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar. Dem Anspruch des Beschwerdeführers auf Informationszugang auch zu den nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen müsse hinreichend Rechnung getragen werden. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass die technische Komplexität der bei Geschwindigkeitsmessung zum Einsatz kommenden Messmethoden und die bei standardisierten Messverfahren verringerten Anforderungen an die Beweiserhebung und die Urteilsfeststellungen das Bedürfnis der Betroffenen nach Zugang zu weiteren, die Messung betreffenden, Informationen nachvollziehbar erscheinen lassen. Der Betroffene müsse sich durch das Recht auf Zugang selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus den beantragten Aktenteilen entlastende Tatsachen ergäben. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssten deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Weiterhin ist das Messergebnis nur dann zu überprüfen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind.[6] Der Betroffene hat die Möglichkeit, auf Zweifel an der Messung aufmerksam zu machen und einen Beweisantrag zu stellen, wobei er konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgeräts vortragen muss. Um Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Messfehlers zu ermitteln, um diese dem Gericht zu präsentieren und dessen Amtsaufklärungspflicht auszulösen, darf ihm der Zugang dazu aber nicht verwehrt werden. Für ein erfolgreiches Akteneinsichtsgesuch muss der Betroffene demnach fortan nicht etwa, wie bei Beweisanträgen in Bußgeldverfahren, "konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen". Das BverfG hat aufgezeigt, dass der Umgang des Oberlandesgerichts mit den Betroffenenrechten nicht mit einem fairen Verfahren vereinbar ist. Derart klar liest man dies vom BVerfG nur selten.

[6] BVerfG (Rn 46) mit Verweis auf Fromm, NZV 2013, 16, 18.

D. Auffälligkeiten beim Verfahrensverlauf

Dass andere Oberlandesgerichte die Sache nicht viel früher dem BGH gem. § 79 Abs. ...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge