BGB § 249 Abs. 2 S. 1
Leitsatz
Beauftragt der Geschädigte nach einem Verkehrsunfall, für den der Schädiger zu 100 % haftet, einen Privatsachverständigen mit der Schadensermittlung und gelangt dieser Sachverständige zu den Wiederbeschaffungsaufwand übersteigenden Reparaturkosten (wirtschaftlicher Totalschaden), darf der Geschädigte das Fahrzeug zu dem im Gutachten angegebenen Restwert veräußern, wenn er bei dem Verkauf davon ausgehen darf, zu dem objektiv "richtigen" Wert zu veräußern.
Hat der Geschädigte das Gutachten an die gegnerische Versicherung übersandt und gleichzeitig – unter Fristsetzung – darauf hingewiesen, dass er nach Fristablauf das Fahrzeug an den höchstbietenden Restwertaufkäufer veräußern werde, ohne dass die Versicherung innerhalb der (angemessen) gesetzten Frist reagiert, kann sich die Versicherung – unter Berufung auf zwischenzeitlich ermittelte, deutlich günstigere Reparaturkosten, die einem wirtschaftlichen Totalschaden entgegenstehen – nicht im Nachhinein (also nach Veräußerung des Fahrzeugs) darauf berufen, der Geschädigte habe sich nicht entsprechend dem Wirtschaftlichkeitsgebot verhalten; dies gilt selbst dann, wenn sich herausstellen sollte, dass die Feststellungen in dem von dem Geschädigten in Auftrag gegebenen Gutachten (für diesen nicht erkennbar) nicht fachgerecht oder zumindest auch anders vertretbar sein sollten.
OLG Koblenz, Verfügung vom 1.2.2022 – 12 U 2148/21
1 Aus den Gründen:
Das Gericht weist die Parteien auf Folgendes hin:
Die Parteien streiten mit der Berufung noch um restlichen Schadensersatz aus einem Unfallereignis, das sich am 2.5.2020 in K. in Höhe der Straße E. 24 zugetragen hat. Die jeweiligen Haftungsverantwortlichkeiten zwischen den Unfallbeteiligten sind außer Streit; lediglich die Höhe des dem Kläger entstandenen Sachschadens bildet die Grundlage des Rechtsstreits in zweiter Instanz. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob der Kläger bei der der Klageforderung zugrundeliegenden Schadensberechnung gegen das Wirtschaftlichkeitspostulat verstößt, indem er, ausgehend von einem wirtschaftlichen Totalschaden, den von dem (Privat-)Sachverständigen J. ermittelten "Wiederbeschaffungsaufwand" geltend macht. Der Beklagte ist insoweit der Auffassung, der Kläger sei vorliegend unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots gehalten gewesen, die Schadensberechnung auf der Grundlage des ihm mit Schreiben vom 24.6.2020 aufgezeigten – im Vergleich zu den Berechnungen des Sachverständigen J. – günstigeren Instandsetzungskosten vorzunehmen.
Dieser Ansicht vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Der Kläger dürfte entgegen der Ansicht des Beklagten vorliegend berechtigt sein, seine Schadenskalkulation auf der Grundlage der durch das "Schadensgutachten J." ausgewiesenen Wertansätze vorzunehmen, sodass für die hier in Rede stehende Schadensabwicklung von einem "wirtschaftlichen Totalschaden" des Fahrzeugs auszugehen sein dürfte, die den Kläger rechtlich in die Lage versetzt, betragsmäßig die Erstattung des von ihm geltend gemachten Schadens in Höhe des gutachterlich kalkulierten Wiederbeschaffungsaufwands zu verlangen.
Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Freiheit, jederzeit nach Belieben über das beschädigte Fahrzeug verfügen zu dürfen, ein zentraler Ausdruck der Eigentümerbefugnis des Geschädigten ist (§ 903 BGB). Sie entspricht zugleich dem schadensrechtlichen Dispositionsgrundsatz, wonach der Geschädigte als Herr des Restitutionsverfahrens sowohl in der Wahl der Mittel zur Schadensbehebung als auch in der Verwendung des vom Schädiger zu leistenden Schadensersatzes frei ist (vgl. BGH, Urt. v. 9.6.2009 – VI ZR 110/08, BGHZ 181, 242 ff.; Urt. v. 12.3.2009 – VII ZR 88/08, MDR 2009, 743; Urt. v. 23.5.2006 – VI ZR 192/05, BGHZ 168, 43 ff.; Urt. v. 29.4.2003 – VI ZR 398/02, juris, Rn 16, BGHZ 155, 1 ff.). Der Geschädigte soll also grundsätzlich eigenständig und autonom darüber entscheiden können, in welcher Weise er die Restitution des ihm durch den Unfall entstandenen Schadens vornimmt, ob durch Instandsetzung des beschädigten oder durch die Ersatzbeschaffung eines gleichwertigen Fahrzeugs. Der Eintritt des Schadensfalls rechtfertigt es nicht, diese Eigentümerbefugnis durch Einführung einer Wartepflicht – die insoweit gebotene Abgrenzung zu dem allgemein anerkannten Prüfungsrecht der Versicherung bei der Schadensabwicklung wird im Folgenden näher erläutert werden – bei der Veräußerung einzuschränken, wenn der Geschädigte bei dem Verkauf zu dem im Gutachten ausgewiesenen Restwert davon ausgehen darf, zu dem objektiv "richtigen" Wert zu veräußern. Zwar erfährt das dem Grunde nach anzuerkennende Integritätsinteresse des Geschädigten eine Einschränkung dahingehend, dass er – ausgehend von dem Tatbestandsmerkmal der "Erforderlichkeit" in § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB – grundsätzlich die Restitutionsform mit dem den Schädiger geringstmöglich belastenden Aufwand wählen muss, will er die von ihm erbrachten Aufwendungen vollständig ersetzt erhalten; diesen Anforderungen trägt das Regulierungsverlangen des Klägers vorl...