BGB § 253 Abs. 2, ZPO § 287 Abs. 1
Leitsatz
1. Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei geht es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls. Diese hat der Tatrichter zunächst sämtlich in den Blick zu nehmen, dann die fallprägenden Umstände zu bestimmen und diese im Verhältnis zueinander zu gewichten. Dabei ist in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen; hier liegt das Schwergewicht. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen, die sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt.
2. Diesen Grundsätzen wird die sogenannte "taggenaue Berechnung" des Schmerzensgeldes nicht gerecht.
BGH, Urt. v. 15.2.2022 – VI ZR 537/20
Sachverhalt
[1] Der Kläger nimmt die Beklagten nach einem Verkehrsunfall auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
[2] Im Dezember 2012 verunglückte der Kläger bei einem Verkehrsunfall, als er sich als Unfallhelfer auf dem Seitenstreifen einer Autobahn befand und von einem ins Schleudern geratenen Fahrzeug erfasst wurde. Für die Folgen des Unfalls sind der Beklagte zu 1 als Fahrer, die Beklagte zu 2 als Halterin und die Beklagte zu 3 als Haftpflichtversicherer des unfallverursachenden Pkw dem Grunde nach voll einstandspflichtig. Der Kläger erlitt bei dem Unfall erhebliche Verletzungen, unter anderem eine erstgradig offene Unterschenkelfraktur rechts, einen knöchernen Kollateralbandausriss am Wadenbein links, eine minimale intracerebrale Gehirnblutung frontoparietal rechts sowie eine Ruptur der Fibulotalarbänder des oberen Sprunggelenks. Im Zeitraum zwischen dem Unfallereignis und Februar 2015 wurde der Kläger 13-mal stationär in Krankenhäusern behandelt, in denen er insgesamt über 500 Tage verbrachte. Es wurden mehrere Revisionsoperationen und Materialentfernungen durchgeführt, bis schließlich aufgrund eines persistierenden Infekts im November 2014 der rechte Unterschenkel amputiert und der Kläger mit einer Endoprothese versorgt wurde. Der Kläger ist in Folge des Verkehrsunfalls zu mindestens 60 % in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert.
[3] Das Landgericht Darmstadt hat dem Kläger – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 EUR nebst Zinsen zuerkannt. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht Frankfurt das landgerichtliche Urteil dahingehend abgeändert, dass es dem Kläger ein Schmerzensgeld von insgesamt 200.000 EUR nebst Zinsen zugesprochen hat. Mit ihrer insoweit vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehren die Beklagten hinsichtlich des Schmerzensgeldes die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
2 Aus den Gründen:
[4] I. Das Berufungsgericht, dessen Urteil in VersR 2021, 127 veröffentlicht ist, hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, der Tatrichter müsse sich mit den für die Schmerzensgeldbemessung maßgeblichen Umständen auseinandersetzen, wobei Schmerzensgeldentscheidungen anderer Gerichte weder Maßstab noch Begrenzung darstellten. Eine wirklich vergleichbare Entscheidung, die den Beeinträchtigungen des hiesigen Klägers ausreichend Rechnung trage, sei nicht bekannt. Die Schmerzensgeldbemessung unterliege zahlreichen subjektiven und regionalen Faktoren und sei für die Betroffenen kaum prognostizierbar. Unter Berücksichtigung dessen, dass weit über 90 % aller Schadensfälle außergerichtlich reguliert würden, sei es erforderlich, den Geschädigten ein System an die Hand zu geben, das eine transparente und gleichmäßige Berechnung von Schmerzensgeldern ermögliche. Der Berufungssenat bleibe deshalb auch in Ansehung der hieran geäußerten Kritik bei dem maßgebend im "Handbuch Schmerzensgeld" (Schwintowski u.a., 2013) entwickelten und in seinem Urt. v. 18.10.2018 (OLG Frankfurt, NJW 2019, 442) ausgeführten Prinzip einer sogenannten taggenauen Berechnung des Schmerzensgeldes, modifiziere diese allerdings hinsichtlich der einzelnen Beträge.
[5] Dabei gehe es nicht um eine Scheingenauigkeit, sondern um eine Plausibilitätskontrolle zur Berücksichtigung der die Betroffenen besonders belastenden Dauerschäden. Diese müssten besondere Berücksichtigung finden; es handele sich nicht nur um einen von vielen gleichberechtigten Faktoren.
[6] Zwar sei die der taggenauen Berechnung des Schmerzensgeldes zugrundeliegende Anknüpfung an das durchschnittliche Nettoeinkommen und die Wahl der verschiedenen Prozentsätze diskutabel und wirke willkürlich. Auch führe die buchstabengetreue Anwendung des Systems im Bereich jahrelanger Beeinträchtigungen zu Schmerzensgeldern, die zumindest derzeit jenseits der vertretbaren Erhöhung für schwere Fälle lägen. Deshalb gehe der Berufungssenat für solche Fälle in Wei...