StVO § 45 Abs. 1 S. 1, Abs. 9 S. 1 und S. 3
Leitsatz
1. Die Beschränkung der zulässigen Geschwindigkeit auf 30 km/h für einen Streckenabschnitt, den Grundschulkinder als Schulweg benutzen, setzt im Hinblick auf das Erfordernis einer qualifizierten Gefahrenlage in § 45 Abs. 9 S. 3 StVO nicht voraus, dass es dort bereits zu Unfällen (mit Personenschaden) gekommen ist.
2. Eine das allgemeine Risiko deutlich übersteigende Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutbeeinträchtigung im Sinne des § 45 Abs. 9 S. 3 StVO kann auch dann gegeben sein, wenn die Straßenquerung wegen der Unübersichtlichkeit und beschränkten Einsehbarkeit eines Straßenabschnitts sowie des dort zu Tage getretenen Geschwindigkeitsniveaus des Kraftfahrzeugverkehrs für Grundschulkinder besonders schwierig ist.
VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 25.3.2024 – 13 S 730/23
1 Aus den Gründen: "…"
a. Nach § 45 Abs. 1 S. 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten. Gemäß § 45 Abs. 9 S. 1 StVO sind Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Nach § 45 Abs. 9 S. 3 StVO dürfen – abgesehen von hier nicht einschlägigen Ausnahmen (vgl. § 45 Abs. 9 S. 4 und 5 StVO) – Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter – also etwa der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs und dem damit verbundenen Schutz von Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer – erheblich übersteigt.
Besondere örtliche Verhältnisse im Sinne von § 45 Abs. 9 S. 3 StVO können bei verkehrsbehördlichen Maßnahmen insbesondere in der Streckenführung, dem Ausbauzustand der Strecke, der zur Verfügung stehenden Fläche für den Fahrzeug- und Fußgängerverkehr, witterungsbedingten Einflüssen, der dort anzutreffenden Verkehrsbelastung, der Verteilung des Verkehrs und den daraus resultierenden Unfallzahlen begründet sein (vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.1.2018 – 3 B 58.16 – juris Rn 21 und v. 23.4.2013 – 3 B 59.12 – juris Rn 9; Urt. v. 23.9.2010 – 3 C 37.09 – juris Rn 26; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 22.9.2020 – 5 S 2477/20 – n.v.; Urt. v. 19.11.2009 – 5 S 575/09 – juris Rn 30; BayVGH, Urt. v. 5.6.2018 – 11 B 17.1503 – juris Rn 26).
Eine Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko einer Rechtsgutbeeinträchtigung erheblich übersteigt, ist nicht erst dann anzunehmen, wenn alsbald mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermehrt Schadensfälle eintreten würden, sähe die zuständige Straßenverkehrsbehörde von einem Eingreifen ab. Unfälle beruhen in der Regel auf einer Mehrzahl von Faktoren, die sowohl subjektiver (Fahrerverhalten) wie objektiver Art (Streckencharakter und Verkehrsverhältnisse) sein können. Auch für die Streckeneigenschaften und die Verkehrsverhältnisse ihrerseits sind eine Reihe von Umständen (mit-)bestimmend. Angesichts dessen würde sich in der konkreten Situation eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit vermehrter Schadensfälle kaum je dartun lassen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es bei Verkehrsbeschränkungen und -verboten im Sinne des § 45 Abs. 9 S. 3 StVO regelmäßig – bei solchen zur Unfallvermeidung wie der hier in Rede stehenden Geschwindigkeitsbegrenzung immer – um die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben und bedeutende Sachwerte geht. Nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts ist jedoch, wenn derart hochrangige Rechtsgüter betroffen sind, ein behördliches Einschreiten bereits bei einer geringeren Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zulässig und geboten. Eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit wird daher von § 45 Abs. 9 S. 3 StVO nicht gefordert. Die Vorschrift setzt nur – aber immerhin – eine das allgemeine Risiko deutlich übersteigende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts voraus. Erforderlich ist somit eine entsprechende konkrete Gefahr, die auf besonderen örtlichen Verhältnissen beruht (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.9.2010 a.a.O. Rn 27; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 22.9.2020 a. a. O; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 30.3.2022 – 5 MB 4/22 – juris Rn 27; OVG NRW, Beschl. v. 6.6.2019 – 8 B 821/18 – juris Rn 8 ff.).
Maßnahmen im Regelungsbereich des § 45 Abs. 9 StVO stehen im Ermessen der zuständigen Behörde. Soweit es um die Auswahl der Mittel geht, mit denen der konkreten Gefahr begegnet werden soll, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Bei Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 9 S. 3 StVO, zumal bei einer konkreten Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben, ist in der Regel ein Tätigwerden der Behörde geboten und somit ihr Erschließungsermessen reduziert. Die Auswahl der Mittel ist indes nicht in bestimmter Weise durch die StVO vorgezeichnet, sie steht im Ermessen der Behörde (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.9.2010 a.a.O. Rn 35; OVG NRW, Beschl. v. 9.7.2021...