StVG § 2; FeV § 13 S. 1 Nr. 2 Buchst. b und d § 11 Abs. 8 S. 1; FeV Anlage 4 Nr. 8.1; StGB § 52 f.
Leitsatz
Wiederholte Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV), die die Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigen, liegen nur dann vor, wenn der Betroffene in mindestens zwei vom Geschehensablauf her eigenständigen Lebenssachverhalten je eine oder mehrere solche Zuwiderhandlungen begangen hat.
BVerwG, Urt. v. 14.12.2023 – 3 C 10.22
1 Sachverhalt
Die Kl. begehrt die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis. Wegen in Tatmehrheit im Sinne des StGB begangener fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr sowie vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort hatte sie das AG K. rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt und ihr die Fahrerlaubnis entzogen. Nach den Feststellungen im Strafurteil fuhr die Kl. am 2.4.2015 mit ihrem Pkw in alkoholbedingt fahruntüchtigem Zustand (BAK von 0,68 Promille) auf den Parkplatz eines Supermarkts. Nach dem Einkauf parkte sie rückwärts aus und fuhr dabei auf einen hinter ihrem Fahrzeug stehenden Pkw auf. Sie stieg aus und begutachtete den entstandenen Schaden. Anschließend fuhr sie in ihre Wohnung zurück, ohne die erforderlichen Unfallfeststellungen treffen zu lassen. Als die Kl. im März 2018 beim Beklagten die Neuerteilung der Fahrerlaubnis beantragte, forderte er von ihr die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens. Sie habe am 2.4.2015 wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen, die Zweifel an ihrer Fahreignung begründeten. Zwischen den beiden Fahrten liege mit dem Aussteigen aus dem Fahrzeug und der Begutachtung des Schadens eine Zäsur. Da die Kl. das Gutachten nicht beibrachte, lehnte der Bekl. die Fahrerlaubniserteilung ab.
Das VG Düsseldorf hat ihre Klage abgewiesen (VG Düsseldorf, Urt. v. 23.5.2019 – VG 6 K 4858/18). Das OVG NRW hat diese Entscheidung geändert und den Bekl. zur Erteilung der Fahrerlaubnis verpflichtet. Bei dem Geschehen am 2.4.2015 habe es sich nicht um wiederholte Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss i.S.d. § 13 S. 1 Nr. 2 Buchst. b FeV gehandelt (OVG NRW, Urt. v. 19.1.2022 – OVG 16 A 2670/19). Das BVerwG hat die Revision des Bekl. gegen das Urt. des OVG NRW v. 19.1.2022 zurückgewiesen.
2 Aus den Gründen: "II."
[10] Die Revision des Bekl. ist unbegründet. Die Annahme des OVG, dass die Kl. einen Anspruch auf die beantragte Neuerteilung der Fahrerlaubnis hat (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO), beruht nicht auf der Verletzung revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Bekl. durfte nicht gemäß § 11 Abs. 8 S. 1 FeV ihre Fahreignung verneinen, weil sie das geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht beigebracht hatte. Das OVG hat auf der Grundlage seiner revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden tatrichterlichen Würdigung der hier gegebenen Umstände ohne Verstoß gegen Bundesrecht angenommen, dass der Bekl. die Beibringensaufforderung nicht auf § 13 S. 1 Nr. 2 Buchst. b FeV stützen durfte, weil die Kl. am 2.4.2015 nicht wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen hatte (1. und 2.). Die Beibringensaufforderung konnte auch nicht auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt werden (3.). Nach den tatsächlichen Feststellungen des OVG sind auch die weiteren Voraussetzungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis erfüllt (4.). Danach erweist sich zugleich die Auferlegung von Verwaltungskosten als rechtswidrig und verletzt die Kl. in ihren Rechten (5.).
[11] 1. Maßgeblich für die Beurteilung des Verpflichtungsbegehrens der Kl. auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis ist die Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Zur Anwendung kommen damit die rechtlichen Regelungen, die auch das Berufungsgericht zugrunde zu legen hätte, wenn es zum Zeitpunkt des revisionsgerichtlichen Urteils entschiede (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, Urt. v. 17.3.2021 – 3 C 3.20, BVerwGE 172, 18 Rn 12 m.w.N.). Anzuwenden sind daher das StVG in der Fassung v. 5.3.2003 (BGBl I S. 310, 919), zum maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geä. durch Art. 8 des Gesetzes v. 21.11.2023 (BGBl I Nr. 315), sowie die FeV v. 13.12.2010 (BGBl I S. 1980), zum maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Art. 4 der Verordnung v. 20.7.2023 (BGBl I Nr. 199).
[12] Nach § 20 Abs. 1 S. 1 FeV gelten für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung die Vorschriften für die Ersterteilung. Gemäß § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StVG müssen die Fahrerlaubnisbewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet sein. Die Eignung besitzt nach § 2 Abs. 4 S. 1 StVG sowie § 11 Abs. 1 S. 1 und 3 FeV, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat. Die Anforderungen sind insbes. dann nicht erfüllt, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur FeV vorliegt, wodurch die Eignung...