1. Die Polizei darf bei Verkehrskontrollen Bildmaterial aufzeichnen, um einen Verkehrsverstoß zu dokumentieren und den Täter zu identifizieren. Dies galt bis vor wenigen Monaten als selbstverständlich. Viele Gerichte setzten sich zwar intensiv mit den unterschiedlichen Messverfahren und mit den Kriterien einer Fahreridentifizierung auseinander. Die Rechtsgrundlage für die Durchführung dieser Verkehrskontrollen wurde in den Entscheidungen jedoch nur selten erörtert. Dies änderte sich im Sommer 2009.
1.1 Am 11.8.2009 entschied das BVerfG, dass Videoaufzeichnungen mit dem Verkehrskontrollsystem Vidit VKS 3.0 in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen und dass ein solcher Eingriff nur auf ein Gesetz und nicht auf eine Verwaltungsvorschrift gestützt werden darf.
BVerfG, Beschl. v. 11.8.2009, 2 BvR 941/08, Rn 15 m.w.N.
Eigentlich enthielt diese Entscheidung juristisch nichts Neues. Zu den Rechtsfragen im Zusammenhang mit Kameraüberwachungsmaßnahmen hatte sich das BVerfG bereits in mehreren Entscheidungen ausführlich geäußert.
Danach greift die Aufzeichnung von Bildmaterial im Rahmen der Verkehrsüberwachung jedenfalls dann in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein, wenn mit den gefertigten Bildern die Identifizierung des Fahrzeugs und des Fahrers beabsichtigt und technisch auch möglich ist.
BVerfG, Urt. v. 11.3.2008, 1 BvR 2074/05
BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007, 1 BvR 2368/06
Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dürfe im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt werden.
BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, 1 BvR 209/83
BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007, 1 BvR 2368/06
BVerfG, Urt. v. 11.3.2008, 1 BvR 2074/05
Ein solcher Eingriff sei aber nur auf einer gesetzlichen Grundlage zulässig. Dieses Gesetz müsse dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entsprechen und verhältnismäßig sein.
BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, 1 BvR 209/83
BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007, 1 BvR 2368/06
BVerfG, Urt. v. 11.3.2008, 1 BvR 2074/05
Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs müssten in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden.
BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, 1 BvR 209/83
BVerfG, Urt. v. 14.7.1999, 1 BvR 2226/94
BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007, 1 BvR 2368/06
Der von dem BVerfG angesprochene Gesetzesvorbehalt ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips,
Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 20 GG Rn 44 ff.
Er ist im Hinblick auf den Datenschutz in mehreren Landesverfassungen ausdrücklich geregelt (z.B. Art. 11 Abs. 2 der Verfassung des Landes Brandenburg, Art. 33 Satz 2 der Verfassung von Berlin, Art. 6 Abs. 4 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern).
1.2 Allerdings ging es in dem Beschl. v. 11.8.2009 gar nicht unmittelbar um die Verfassungsmäßigkeit von Kameraüberwachungsmaßnahmen bei Verkehrskontrollen, sondern um die Anforderungen an die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts durch die Gerichte.
Das AG Güstrow hatte in einem Urt. v. 15.1.2007 als Rechtsgrundlage für den Grundrechtseingriff einen ministeriellen Erlass genannt und das OLG Rostock den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde am 20.3.2008 als unbegründet verworfen.
Diese Entscheidungen waren nach dem Beschluss des BVerfG vom 11.8.2009 unhaltbar. Eine Rechtsauffassung, die einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auf den Erlass eines Ministeriums stützt, sei unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar und daher willkürlich.
BVerfG, Beschl. v. 11.8.2009, 2 BvR 941/08, Rn 14
In diesem Zusammenhang wies das BVerfG darauf hin, dass sich das Gericht mit den Anforderungen an die gesetzliche Grundlage für einen Grundrechtseingriff auseinander setzen und, falls eine solche Grundlage fehlt, auch die Frage eines etwaigen Beweisverwertungsverbotes prüfen muss.
BVerfG, Beschl. v. 11.8.2009, 2 BvR 941/08, Rn 23, 24
Dabei ließ das BVerfG ausdrücklich offen, ob auf der Ebene des Grundrechtseingriffs zwischen Übersichtsaufnahmen des auflaufenden Verkehrs einerseits und Aufnahmen der Fahrzeugführer sowie der Kennzeichen andererseits differenziert werden muss.
BVerfG, Beschl. v. 11.8.2009, 2 BvR 941/08, Rn 16
Zu der Frage, ob auf der Ebene der Eingriffsermächtigung zwischen verdachtsunabhängigen und anlassbezogenen Kameraüberwachungsmaßnahmen unterschieden werden muss, äußerte sich das BVerfG nicht. Zu diesem Punkt referierte es nur die Argumente des Beschwerdeführers. Dieser hatte vorgetragen, dass es für eine heimliche und automatisierte Videoüberwachung, bei der alle Verkehrsteilnehmer identifizierbar aufgezeichnet werden, weder im Gefahrenabwehrrecht noch im Ordnungswidrigkeitenrecht eine Rechtsgrundlage gibt.
BVerfG, Beschl. v. 11.8.2009, 2 BvR 941/08, Rn 2, 7
Allerdings darf nach der Rspr. des BVerfG die automatisierte Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen nicht anlasslos erfolgen oder flächendeckend durchgeführt werden.
BVerfG, Urt. v. 11.3.2008, 1 BvR 2074/05
Mit den Fragen der Eingriffsermächtigung und des Beweisverwertungsverbotes sollten sich die Instanzgerichte auseinander setzen. Zu diesem Zweck verwies ...