Man muss wohl der Bagatellgrenze nicht nachtrauern. Ohnehin habe ich es immer für problematisch gehalten, dass ihre Befürworter sie ausgerechnet am Beispiel einer "nicht objektivierbaren leichten HWS-Verletzung ersten Grades" festmachen wollten, obwohl über kaum einen Verletzungstypus in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht so viel Unklarheit besteht.
Daran scheint sich in den letzten Jahren nicht viel geändert zu haben, auch wenn es um den HWS-Schaden merklich stiller geworden ist. So las ich in einem Beitrag in DAR 2016, dass die Regulierung von HWS-Ansprüchen jedenfalls außergerichtlich von Versicherungen zunehmend abgelehnt werde und es wird dort die Frage aufgeworfen, ob dies auf neueren technischen oder medizinischen Erkenntnissen beruhe oder auf einem Wandel der Rechtsprechung oder auf wirtschaftlichen Erwägungen der Versicherer. Eine Antwort konnte ich diesem Aufsatz nicht entnehmen.
Der BGH hat sich in neuerer Zeit in zwei Entscheidungen zur sog. Harmlosigkeitsgrenze geäußert. Gemeint ist eine besonders niedrige Auffahrgeschwindigkeit, die nach einigen Stimmen in Rechtsprechung und Schrifttum die Entstehung eines HWS-Schadens ausschließen soll. Nach Auffassung des BGH ist jedoch eine geringe kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung nicht geeignet, eine Verletzung der HWS trotz entgegenstehender Hinweise generell auszuschließen, weil es stets auf den Einzelfall ankommt. Dem kann ich nur zustimmen.
Aus rechtlicher Sicht ist bei der HWS-Verletzung zu unterscheiden: wird sie als unmittelbare Folge des Unfalls und damit als Primärschaden geltend gemacht, handelt es sich um die haftungsbegründende Kausalität und der Kläger muss einen solchen Schaden zur vollen Überzeugung des Gerichts beweisen, nämlich nach dem Maßstab des § 286 ZPO. Um die haftungsbegründende Kausalität geht es auch bei der Frage, ob der Körperschaden durch den Unfall verursacht worden ist oder auf eine andere Ursache, etwa eine Vorschädigung, zurückgeht. Folgeschäden, die sich erst aus der Primärverletzung ergeben – etwa fortdauernde Beschwerden, Erwerbsunfähigkeit infolge der Körperverletzung oder eine psychische Folgeerkrankung, die ihrerseits Erwerbsunfähigkeit nach sich ziehen kann – betreffen die haftungsausfüllende Kausalität. Hier gilt das Beweismaß des § 287 ZPO mit beträchtlichen Erleichterungen bei der Darlegung und Beweisführung. Auch muss hier der Tatrichter anders als bei § 286 ZPO nicht allen Beweisanträgen nachgehen, sondern kann – insbesondere zur Schadenshöhe – eine Schätzung vornehmen, wenn hierfür hinreichende Anhaltspunkte vorliegen. Grundsätzlich ist aber auch bei § 287 ZPO der Kläger darlegungs- und beweispflichtig und er bleibt ebenso wie bei § 286 ZPO beweisfällig, wenn er den Beweis nicht führen kann.
Problematisch sind die Fälle, in denen auch bei Anwendung modernster Methoden eine Körperverletzung nicht festgestellt werden kann, weil sie nie vorgelegen hat oder im Zeitpunkt der medizinischen Begutachtung im Prozess bereits folgenlos ausgeheilt ist. Bei den Homburger Tagen 2002 und in einem Beitrag zur Festschrift anlässlich des 25-jährigen Jubiläums Ihrer Arbeitsgemeinschaft habe ich mich besonders mit der psychischen Komponente dieses Schadens befasst, die zur Folge haben kann, dass eine Körperverletzung nicht (mehr) feststellbar ist, der Geschädigte sich jedoch wegen dieser Verletzung bzw. der von ihm geklagten Folgen für dauerhaft erwerbsunfähig hält und sich deshalb aus dem Erwerbsleben verabschiedet. Die Erfahrung zeigt, dass diese Verknüpfung physischer und psychischer Beeinträchtigungen häufig dem Geschädigten selbst nicht bewusst ist und dieser Umstand zur Folge haben kann, dass sie im Schadensersatzprozess nicht hinreichend deutlich gemacht wird. Deshalb habe ich mich in dem Festschriftbeitrag insbesondere mit der Behandlung des HWS-Schadens und des psychischen Folgeschadens im Prozess befasst und das juristische Instrumentarium zur Bewältigung dieser Schadensfälle sowie die Anforderungen vorgestellt, die an einen sachgerechten Parteivortrag zu stellen sind. Dass dieser auch der Wahrheit entsprechen muss, brauche ich hier nicht besonders zu betonen.
Mir selbst ist diese psychische Komponente besonders deutlich geworden, als im Sommer 2002 an einer Ampel ein Lieferwagen auf meinen kleinen Twingo auffuhr und diesem einen beträchtlichen Knick beibrachte. Der Totalschaden wurde von der Versicherung anstandslos reguliert, die Anzeichen einer leichten Gehirnerschütterung sowie vorübergehende Nackenbeschwerden habe ich klaglos weggesteckt. Aber mir ist doch aufgefallen, dass noch jahrelang ein unangenehmes Ziepen im Nacken auftrat und zwar vor allem dann, wenn ich mich über etwas aufgeregt habe. Natürlich weiß ich nicht, ob seinerzeit eine Körperverletzung hätte festgestellt werden können – aber ich kann bestätigen, dass noch viele Jahre lang bei psychischer Belastung manchmal Beschwerden im Nackenbereich aufgetreten sind und mich an den Unfall erinnert haben. Zur Berufsunfähig...