So beginnt das Grundgesetz, dessen Inkrafttreten nun 70 Jahre zurückliegt. Natürlich schützt das Grundgesetz zunächst nur vor staatlichen Angriffen auf die Würde. Aber was ist die Würde überhaupt? Den Begriff der Würde mit Leben zu füllen, gestaltet sich schwierig, da hierzu jeder erst einmal eine Vorstellung davon entwickeln muss, was er unter seiner Würde versteht und was diese eigene Würde ausmacht. Und ist sie wirklich unantastbar oder wird sie nicht vielmehr, worauf Kollege von Schirach (Die Würde ist antastbar) hinweist, dauernd angetastet?
Und wie sieht es mit der nach meiner Auffassung zwingend mit der Würde einhergehenden Kollegialität aus? Denn wer die Würde anderer achtet, pflegt auch einen kollegialen Umgang.
Nach meiner Ansicht hat der unkollegiale Umgang, wohl auch aufgrund der zunehmenden zeitlichen Belastung, und vielleicht auch wegen der Individualisierung der Gesellschaft insgesamt (vor 20 Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, mit seinem Fotoapparat ein Selbstporträt von sich zu machen), zugenommen. Wer keine Zeit mehr dafür hat, sein Verhalten und den Inhalt seiner Schriftsätze zu reflektieren, der verhält sich schnell unkollegial.
Ich will meinen Eindruck anhand von einigen Beispielen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – konkretisieren:
Ich vertrete sowohl Geschädigte als auch Versicherer. In jüngster Zeit muss ich jedoch dann, wenn ich auf Passivseite tätig bin, immer häufiger sich der Koprolalie nähernde Äußerungen zur Kenntnis nehmen. Dies deckt sich auch mit dem Inhalt diverser Internetseiten – insbesondere solcher von Sachverständigen –, die nur aus den Satzteilen Subjekt, Prädikat, Beleidigung bestehen.
Ich will hier nicht dem auch in meinen Augen teilweise bedenklichen Regulierungsverhalten einiger Versicherer das Wort reden, will jedoch insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des Kollegen Elsner aus der zfs (2017, 661) verweisen, wonach auch diejenigen, die auf Seiten der Geschädigten tätig sind, nicht immer nur die Interessen der Geschädigten, sondern teilweise auch die anderer Beteiligter vertreten.
Der Anwalt, die Gerichte und die Staatsanwaltschaften sind allesamt Organe des gleichen Körpers, der Rechtspflege. Immer häufiger muss ich jedoch erleben, dass sowohl Gerichte als auch Staatsanwälte jegliche Kollegialität vermissen lassen. Und ich spreche auch insoweit ausdrücklich von Kollegialität. Ein Amtsarzt käme nie auf die Idee, den niedergelassenen Arzt nicht als Kollegen zu bezeichnen.
Wenn jedoch die Anwaltschaft nicht einmal mehr Durchwahlnummern der Richterschaft erhält oder Termine trotz Bitte um fernmündliche Abstimmung – beispielsweise wegen weiter Anreise – einfach festgesetzt werden, zeugt dies nicht von kollegialem Umgang.
Es hat auch nichts mehr mit dem Kampf um's Recht zu tun, wenn sich Referenten auf Fachtagungen – gelinde gesagt – despektierlich über anwesende Kollegen äußern, weil diese aus Referentensicht die falsche Seite in der Schadensregulierung vertreten.
Rücksichtnahme auf die berechtigten Belange des Kollegen scheint immer weniger gefragt. Das unkollegiale Verhalten mag gegebenenfalls sogar kurzfristigen Erfolg bringen, wird jedoch dem Ansehen der Anwaltschaft insgesamt schaden.
Es ist teilweise Mut und Kraft nötig, den vielen von außen kommenden Einwirkungen und Verführungen zu widerstehen, um einen kollegialen Umgang zu pflegen. Wie das gehen kann, zeigt ein Fall des AG Augsburg (Urt. v. 16.12.2015 – 19 CS 400 JS 120055/15). Der Vorsitzenden wurde von einem Anwalt unter anderem vorgeworfen, sie habe postpubertäre Rachegelüste und sei stur. Als Zeugin zum Vorwurf der Beleidigung gehört, antwortete sie lediglich, sie sei da "leidenschaftslos": "Ich glaube, er wollte seinem Ärger Luft machen."
Autor: Jens Dötsch
RA Jens Dötsch, FA für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht, Andernach
zfs 6/2019, S. 301