"… I. Der für die Vorlage einzig erheblichen Verfahrensrüge liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:"

Der Verteidiger hat nach der am 10.7.2020 bewirkten Zustellung des Bußgeldbescheides an die Betr. Einspruch eingelegt und mit Schriftsatz vom 16.7.2020 bei der Verwaltungsbehörde “komplette Akteneinsicht' beantragt. Ferner hat er um Einsicht in “die Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihe mit Rohmessdaten/Einzelmesswerten sowie Statistikdatei und Caselist' sowie weitere Urkunden gebeten (zum Begriff der Rohmessdaten s. Thiele, DAR 2020, 614, 615; Burhoff/Niehaus in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., Rn 236). Zur Begründung hat er ausgeführt, aus einer Analyse der Messreihe könne sich ergeben, dass andere Messungen fehlerhaft sind oder technisch nicht nachvollzogen werden können, was Rückschlüsse auf die tatgegenständliche Messung zulasse. Dies gelte insb. für die Aspekte atypischer Fotopositionen, einer Divergenz zwischen der Anzahl der erfassten Messungen und der generierten Falldatensätze, der Annullierungsrate des Geräts, möglicher Bewegungen des Messgeräts während der Messung sowie einer eventuellen Nutzung von Messpunkten außerhalb des Messbereichs. Mit Schreiben v. 31.7.2020 lehnte die Verwaltungsbehörde mit Verweis auf die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens die Übersendung “weiterer Unterlagen' ab. Mit Schriftsatz v. 10.8.2020 beantragte der Verteidiger die Einholung einer gerichtlichen Entscheidung und die Übersendung der Sache an das AG. Diesen Antrag lehnte das AG durch Beschl. v. 26.8.2020 ab, weil ein Anspruch auf die Überlassung der Daten der gesamten Messreihe nicht bestehe und aus diesen auch keine Rückschlüsse auf die Messrichtigkeit des Geräts gezogen werden könnten. Der Verteidiger wiederholte nach Abgabe des Verfahrens an das AG sein Begehren und erhob gegen den Beschl. v. 26.8.2020 sofortige Beschwerde, die bislang dem LG noch nicht vorgelegt worden ist. In der mündlichen Verhandlung v. 25.1.2021 beantragte der Verteidiger die Aussetzung des Verfahrens, die er mit der nach wie vor nicht erfolgten Einsicht in die begehrten Messunterlagen begründete. Nach Zurückweisung des Aussetzungsantrages widersprach der Verteidiger der Verwertung der Messdaten und des Messfotos. Das AG verlas das Datenfeld des Messfotos und legte dieses ausweislich der schriftlichen Urteilsgründe seiner Überzeugungsbildung zugrunde.

Die Rechtsbeschwerde sieht durch dieses prozessuale Geschehen das Gebot des fairen Verfahrens als verletzt an, weil das AG das Recht der Betr. auf Einsicht in die begehrten Unterlagen (gesamte Messreihe) rechtsfehlerhaft missachtet habe. Kern der Vorlage ist damit die Frage, ob es einen reversiblen Verfahrensfehler darstellt, wenn das Tatgericht im Bußgeldverfahren einen Antrag auf Beiziehung und Einsicht in nicht bei den Akten befindliche, tatsächlich aber vorhandene Unterlagen (hier: dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Messdaten) abgelehnt hat, deren Relevanz für das Verteidigungsvorbringen nicht ersichtlich ist.

II. 1. Das Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK zählt zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Es gewährleistet dem Betr., prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbstständig wahrzunehmen und Übergriffe der im vorstehenden Sinn rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können. Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist durch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher “Waffengleichheit' von Ankläger und Beschuldigtem gekennzeichnet (Burhoff/Niehaus in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., Rn 227) und dient damit in besonderem Maße dem Schutz des Beschuldigten, für den bis zur Verurteilung die Vermutung seiner Unschuld streitet (BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, juris Rn 32). Für den einem Ordnungswidrigkeitsvorwurf ausgesetzten Betr. erwächst aus diesem namentlich das Recht, im Bußgeldverfahren auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, von der Verwaltungsbehörde zur Verfügung gestellt zu erhalten (Senat, Beschl. v. 7.1.2021 – 1 OWi 2 SsBs 98/20, juris Rn 17 m.w.N.; Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541). Die Einsicht in solche, regelmäßig sich nicht bei der Bußgeldakte befindliche Unterlagen, wie etwa Aufbau- und Gebrauchsanleitungen (vgl. Senat a.a.O.) oder Wartungsunterlagen (vgl. Senat, Beschl. v. 27.4.2021 – 1 OWi 2 SsRs 173/20, zur Veröffentlichung vorgesehen), kann für den Betr. bedeutsam sein. Denn die Kenntnis vom Inhalt dieser Unterlagen kann für ihn notwendig sein, um den gegen ihn erhobenen, auf ein standardisiertes Geschwindigkeits- oder Abstandsmessverfahren (was bei dem hier verwendeten Gerät gegeben ist, vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 6.7.2016 – III-1 RBs 38/16, juris Rn 5 und OLG Koblenz, Beschl. v. 17.7.2018 – 1 O...

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