"… Zur Vorlagefrage"
[25] Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet dem Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins der Klassen A und B wegen einer Zuwiderhandlung, die bei einem vorübergehenden Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet nach der Ausstellung dieses Führerscheins stattgefunden hat, und wegen des sich daraus gemäß den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats ergebenden Fehlens der Fahreignung das Recht, zu fahren, aberkannt wurde, verwehren, später die Anerkennung der Gültigkeit dieses Führerscheins abzulehnen, nachdem dieser gem. Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie vom Mitgliedstaat, in dem sich der ordentliche Wohnsitz i.S.v. Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie des Inhabers dieses Führerscheins befindet, erneuert wurde.
[26] Nach st. Rspr. sieht Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 die gegenseitige Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine ohne jede Formalität vor. Diese Bestimmung erlegt den Mitgliedstaaten eine klare und unbedingte Verpflichtung auf, die keinen Ermessensspielraum in Bezug auf die Maßnahmen einräumt, die zu erlassen sind, um ihr nachzukommen (Urt. v. 23.4.2015, Aykul, C-260/13 [zfs 2015, 355 =] EU:C:2015:257, Rn 45 und die dort angeführte Rspr., sowie v. 28.10.2020, Kreis Heinsberg, C-112/19 [zfs 2021, 233=] EU:C:2012:864, Rn 25 und die dort angeführte Rspr.).
[27] Zudem geht aus der Rspr. des Gerichtshofs hervor, dass es Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats ist, zu prüfen, ob die im Unionsrecht aufgestellten Mindestvoraussetzungen, insb. die Voraussetzungen in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 hinsichtlich des Wohnsitzes und der Fahreignung, erfüllt sind und ob somit die Erteilung einer Fahrerlaubnis gerechtfertigt ist (Urt. v. 23.4.2015, Aykul, C-260/13 [zfs 2015, 355 =] EU:C:2015:257, Rn 46 und die dort angeführte Rspr.).
[28] Haben die Behörden eines Mitgliedstaats einen Führerschein gem. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 ausgestellt, sind die anderen Mitgliedstaaten nicht befugt, die Beachtung der in dieser Richtlinie aufgestellten Ausstellungsvoraussetzungen nachzuprüfen. Der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist nämlich als Beweis dafür anzusehen, dass sein Inhaber am Tag seiner Ausstellung diese Voraussetzungen erfüllte (Urt. v. 23.4.2015, Aykul, C-260/13 [zfs 2015, 355 =] EU:C:2015:257, Rn 47 und die dort angeführte Rspr.).
[29] Da außerdem Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 nicht nach der Art der Ausstellung des Führerscheins unterscheidet, d.h. danach, ob er infolge bestandener Prüfungen gem. Art. 7 der Richtlinie 2006/126, infolge eines Umtauschs gem. deren Art. 11 Abs. 1 oder infolge einer Erneuerung nach Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie ausgestellt wurde, gilt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung vorbehaltlich der in der Richtlinie festgelegten Ausnahmen auch für Führerscheine, die aus einer solchen Erneuerung hervorgegangen sind (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 28.10.2020, Kreis Heinsberg, C-112/19 [zfs 2021, 233=] EU:C:2020:864, Rn 26).
[30] Der Gerichtshof hat allerdings in Rn 71 des Urt. v. 23.4.2015, Aykul (C-260/13, [zfs 2015, 355=] EU:C:2015:257), entschieden, dass Art. 2 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins vorübergehend aufhält, nicht daran hindern, die Anerkennung der Gültigkeit dieses Führerscheins wegen einer Zuwiderhandlung seines Inhabers abzulehnen, die in diesem Gebiet nach Ausstellung des Führerscheins stattgefunden hat und die gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats geeignet ist, die fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen herbeizuführen.
[31] Der Gerichtshof hat hierzu in Rn 60 dieses Urteils insb. die Auffassung vertreten, dass nach Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 ein Mitgliedstaat, der nicht der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes des Inhabers eines in einem anderen Mitgliedstaat erhaltenen Führerscheins ist, wegen der in seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung dieses Inhabers Maßnahmen nach seinen nationalen Rechtsvorschriften ergreifen darf, deren Tragweite auf dieses Hoheitsgebiet beschränkt ist und deren Wirkung sich auf die Ablehnung beschränkt, in diesem Gebiet die Gültigkeit dieses Führerscheins anzuerkennen.
[32] Er hat auch entschieden, dass in einer solchen Situation, in der die Fahreignung nicht bei der Ausstellung des Führerscheins, sondern infolge einer vom Inhaber dieses Führerscheins nach dessen Ausstellung begangenen Zuwiderhandlung in Frage gestellt wird, deren Ahndung ihre Wirkungen nur im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats entfaltet hat, in dem diese Zuwiderhandlung begangen wurde, dieser Mitgliedstaat dafür zuständig ist, ...