Kennen Sie den Leinenfängerfall des Reichsgerichts von 1897? Oder den berühmten Kölner "Brauereipferd in der Kneipe Fall" von 1984? Im ersteren Fall ging es darum, dass ein Kutscher wusste, dass eines seiner Pferde ein sog. Leinfänger war, also ein Pferd, das offenbar willentlich durch Einklemmen der Leine zwischen Hinterbacken und Schweif sich der lästigen Leine befreien kann und so unkontrolliert Schäden anrichten könne. Was dann in dem zugrunde liegenden Fall auch einem bedauernswerten Passanten während einer solchen Fahrt passierte. Im anderen Fall ging es um den Schaden durch ein Pferd, das eine offenbar im Jahr 1984 in Köln immer noch benutzte Bierkutsche zog. Vor einer Kneipe vom Kutscher stehen gelassen, trat es gegen ein Auto. Der in der Kneipe stehende Kutscher verteidigte sich damit, dass er die nötige Sorgfalt walten ließ und lehnte Schadenersatzansprüche ab. Der für seine humoristischen Urteile bekannte Amtsrichter Menken sah dies anders, denn der Kutscher hätte die Pferde mit in die Kneipe nehmen müssen, um seiner Sorgfalt wirklich zu genügen.
Warum erzähle ich das?
Bei einem Seminar klagten kürzlich Kollegen, dass sie ja wohl bald nichts mehr zu tun hätten im Verkehrsrecht. Nach der neuen EU-Verordnung müssen ab Juli 2022 immer mehr neue Assistenzsysteme in Neuwagen eingebaut werden. Vor allem die Alkoholwegfahrtsperre oder der Tempowarner und das Antikollisionssystem beim Rückwärtsfahren machten Sorge um das berufliche Tätigkeitsfeld. Auch der Unfalldatenspeicher verhindere, dass es dann noch streitige Unfälle gebe.
Nun, die Sorge ist nicht ganz unberechtigt. Wenn das Auto sich weigert, den Motor zu starten, weil der Fahrer in für ihn trauter Alkoholseligkeit sich hinters Steuer setzt und losfahren will, dann heißt das schlicht weniger Fälle an Verkehrsstrafsachen für den Anwalt und die Anwältin. Das gilt auch für automatisierte Tempowarner oder sonstige moderne Systeme, deren Ziel es ist, die menschliche Unzulänglichkeit beim Autofahren und damit die Anzahl von straf- und zivilrechtlichen Schadensfällen aber eben auch Verkehrsmandate zu minimieren. Gleichwohl ist es sinnfrei, sich gegen diese technischen Neuerungen zu sperren. Auch hier gilt der Satz "Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit". Und wer sich heute noch auf Verkehrsunfälle mit Brauereigäulen spezialisiert hat, der wird recht wenig Mandate im Jahr bearbeiten. Gerade der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass weder die Einführung der Gurtpflicht noch die des Airbags Personenschadensregulierung obsolet gemacht hat. Gerade die Technik mit all ihren vielfältigen Komponenten wird fehleranfällig sein. Da wird es zahlreiche und vielleicht heute noch nicht vorstellbare Haftpflichtfälle versagender künstlicher Intelligenz geben. Und um das Strafrecht mit der Alkoholfahrt mache ich mir auch keine Sorgen. Denn jedes System lässt sich abschalten, zumal die Vorschrift nur verlangt, die "Vorrichtung", also die Schnittstelle, bereitzuhalten, nicht aber das konkrete Atemalkoholmessgerät. Schwere menschliche Abgründe, wie wir sie in letzter Zeit häufig bei illegalen Rennen und immer mehr vorkommenden vorsätzlichen Unfällen erleben, werden genauso bleiben wie das kleine Versagen des Autofahrers bei Unfallflucht, Raserei und Drogenfahrt. Es lohnt sich deshalb immer noch auf Verkehrsrecht spezialisiert zu bleiben oder das Verkehrsrecht als junge Anwältin oder junger Anwalt für sich neu zu entdecken.
Und nicht zu vergessen: Die Unfälle mit dem nicht motorisierten Verkehr nehmen nach meiner Wahrnehmung enorm zu. Und wer weiß, vielleicht steigt ja der ein oder andere aufgrund der hohen Spritpreise wieder auf die gute alte Pferdekutsche um. Entschleunigend wirkt es in jedem Fall.
Autor: Andreas Krämer
RA Andreas Krämer, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht, Frankfurt
zfs 6/2022, S. 301