§ 10 OWiG regelt, dass grundsätzlich nur vorsätzliches Handeln als Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann, es sei denn, dass das Gesetz ausdrücklich auch fahrlässiges Handeln mit Geldbuße bedroht. Die Bußgeldkatalogverordnung (BKatV) gründet auf der Annahme von "gewöhnlichen" Tatumständen, die bei fahrlässiger Begehung im Abschnitt I (Nr. 1 bis 243) und bei vorsätzlicher im Abschnitt II (Nr. 244 bis 255) behandelt werden. Mit Ausnahme der "rechtswidrigen Benutzung eines elektronischen Geräts" (Nr. 246) sind Vorsatzverurteilungen nach Abschnitt II des BKat eher selten. Häufiger ist die Frage, ob besondere Umstände bei Ordnungswidrigkeiten nach Abschnitt I ausnahmsweise zur Annahme von Vorsatz führen sollen.

Nach meinem Eindruck hat Annahme von Vorsatz in Bußgeldsachen in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die Bußgeldsenate der OLGs zerfallen bei der Vorsatzannahme in zwei Lager: Während die einen umfassende Feststellungen für die Vorsatzannahme für erforderlich halten und auch hohe Geschwindigkeitsübertretungen als alleiniges Indiz für eine Vorsatzverurteilung nicht genügen lassen, reicht der derzeit im Aufwind befindlichen Gegenmeinung schon die Übertretung mit einem bestimmten Prozentsatz der erlaubten Höchstgeschwindigkeit ohne weitere Umstände für eine Vorsatzannahme. Die Extremposition in diesem Lager meint sogar, dass selbst ein einseitiges und nicht wiederholtes Verkehrsschild in diesen Fällen der Vorsatzannahme nicht entgegenstünde.[2]

Auch erstinstanzlich ist eine deutlich häufigere Annahme von Vorsatz als in der früheren Rechtsprechungspraxis festzustellen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass dies im Zusammenhang mit deutlich zunehmenden Fallzahlen von gerichtlich zu entscheidenden Ordnungswidrigkeitsvorwürfen steht. Mancher Vorsatzhinweis der Gerichte könnte im Zusammenhang mit dem Wunsch der Richterschaft stehen, wachsenden Fallzahlen stärkere Impulse zur Einspruchsrücknahme entgegenzusetzen. Teilweise wird dieses Motiv auch sehr offen eingeräumt. Der Wunsch mag bei großem Verständnis für die Arbeitsbelastung der Richterschaft nachvollziehbar sein, er ist aber evident sachfremd.

Die Rechtsprechungspraxis zur Vorsatzannahme bei Ordnungswidrigkeiten ist, wie bei vielen anderen Fragen im Bußgeldrecht, trotz angestrebter Gleichmäßigkeit durch den BKat uneinheitlich.[3] Nur selten wird dabei von Gerichten, oder zuvor von Bußgeldbehörden, grobe Fahrlässigkeit unterstellt. Wenn ein Gericht einen Fall für gewichtiger als durchschnittlich hält, überspringt es oft die Annahme von grober Fahrlässigkeit und zieht einen Vorsatzvorwurf in Betracht.

Fragt man Bußgeldrichter nach den Anhaltspunkten, die sie veranlassen über einen Vorsatzhinweis nachzudenken, werden vor allem Ortskenntnis, räumliche und bauliche Umstände, mehr- oder vielfache Beschilderung, erhebliche prozentuale Überschreitung und auf Autobahnen gelegentlich auch Großstadtnähe und der Gesamteindruck vom Betroffenen genannt.[4]

Bei der Differenzierung zwischen einem fahrlässigen und einem vorsätzlichen Geschwindigkeitsverstoß sollte auch die nächste Steigerungsstufe, nämlich in das Strafrecht hinein, im Blick behalten werden, weil zu schnelles Fahren an unübersichtlichen Stellen, an Straßenbahnkreuzungen, Straßeneinmündungen und Bahnübergängen eine Anklage gem. § 315c Abs. 1 Nr. 2d) StGB nach sich ziehen könnte. Dabei gilt grundsätzlich eine doppelte Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit als grob verkehrswidrig.[5]

[2] Gebhardt, Das verkehrsrechtliche Mandat, Band 1, Verteidigung in Verkehrsstraf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren, 8. Auflage, 2015, § 20 Rn 56–61.
[3] Das betrifft insbesondere die Differenzierung zwischen durchschnittlicher Fahrlässigkeit, die grundsätzlich zur Annahme eines Regelfalls mit der Regelbuße führt, und leichterer Fahrlässigkeit mit einer Sanktion unterhalb der Regelbuße. Junghans, Die Abgrenzung zwischen Regel- und Grenzfall in der Rechtsprechung norddeutscher Amtsgerichte bei 21 bis 25 km/h-Verstößen, zfs 4/21.
[4] Wörtlich sagte ein Bußgeldrichter: "Wer sitzt da?", was wenig objektivierbare Vergleiche zulässt, es sei denn, dass sich diese täterbezogene Betrachtung vor allem auf das Fahreignungsregister stützt.
[5] Fischer, StGB, 69. Aufl., 2022, § 315c, Rn 13.

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