[11] II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der gegebenen Begründung hätte das BG einen Direktanspruch der Kl. gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Fall 2 VVG nicht versagen dürfen. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 1 S. 1 VVG müssen nur bei Bestehen des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs vorliegen und können zu einem beliebigen Zeitpunkt vor Schluss der mündlichen Verhandlung eintreten.

[12] 1. Zu welchem Zeitpunkt die Anforderungen des § 115 Abs. 1 S. 1 VVG erfüllt sein müssen, wird allerdings unterschiedlich beurteilt.

[13] a) Nach der überwiegenden und auch vom BG vertretenen Ansicht müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 1 S. 1 VVG bei Klageerhebung (so Knöfel in Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers, Praxiskommentar zum VVG 4. Aufl. § 115 Rn 15 … ; Armbrüster, r+s 2010, 441, 454) oder zumindest während des Rechtsstreits (so Prölss/Martin/Klimke, VVG 31. Aufl. § 115 Rn 14 …) vorliegen. Teilweise wird entsprechend allgemeiner prozessualer Grundsätze auch auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt (Freymann/Wellner/Lennartz, jurisPK-Straßenverkehrsrecht § 115 VVG Rn 28 ff. [Stand: 16.9.2022] …). Nicht ausreichend wäre es insoweit jeweils, wenn ein Insolvenzverfahren bereits vor dem Rechtsstreit beendet worden ist (§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Fall 1 VVG), der VN nur zu dieser Zeit unbekannten Aufenthalts war (§ 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VVG) oder – nach Auffassung des BG – eine Abweisung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse im Rechtsstreit keine Zahlungsunfähigkeit oder drohende Zahlungsunfähigkeit beziehungsweise Überschuldung des VN mehr indizierte (§ 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 VVG).

[14] b) Nach der Gegenansicht genügt es für einen Direktanspruch, dass die Voraussetzungen des § 115 Abs. 1 S. 1 VVG zu einem beliebigen Zeitpunkt vor Schluss der mündlichen Verhandlung eintreten. Trotz ihres späteren Wegfalls bleibe der Anspruch bestehen (vgl. BeckOK-Straßenverkehrsrecht/Kemperdiek, § 115 VVG Rn 22 [Stand: 15.10.2022]; Dallwig in Staudinger/Halm/Wendt, VVG 2. Aufl. § 115 Rn 10; Fortmann, r+s 2021, 513 f.). Wegen der in einem gesetzlichen Schuldbeitritt des VR liegenden Rechtsfolge sei nur maßgeblich, ob die Anforderungen bei Vorliegen des Anspruchs des Dritten gegen den VN erfüllt seien (vgl. Fortmann, a.a.O.).

[15] 2. Die letztgenannte Ansicht trifft zu. Für den gesetzlichen Schuldbeitritt des VR müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 1 S. 1 VVG nur bei Bestehen des Schadensersatzanspruchs des Geschädigten gegen den VN erfüllt sein. Dies ergibt die Auslegung der Regelung.

[16] a) Dem Wortlaut von § 115 Abs. 1 S. 1 VVG lässt sich keine anderslautende Beschränkung entnehmen.

[17] aa) Dies gilt bereits für die Varianten der Nrn. 1 und 3. Auch wenn diese im Präsens formuliert sind, folgt hieraus nicht, dass ihre Voraussetzungen bis zum Rechtsstreit erfüllt sein müssen. Durch ihre Anforderungen an das Versicherungsverhältnis des VN (Nr. 1) beziehungsweise diesen selbst (Nr. 3) beziehen sich beide Varianten inhaltlich – entsprechend der Haftung des VR für den Schädiger im Wege des Schuldbeitritts – auf den "Anspruch auf Schadensersatz" des Dritten. Soweit dieser Anspruch in der Rechtsfolge des § 115 Abs. 1 S. 1 VVG auch gegen den VR geltend gemacht werden kann, bedeutet dies, dass seine Voraussetzungen zeitgleich mit denen des Schuldbeitritts verwirklicht sein müssen, der VN bei Bestehen des Anspruchs also beispielsweise unbekannten Aufenthalts ist (Nr. 3) (vgl. Fortmann, r+s 2021, 513). Das Vorliegen der Anforderungen des Schuldbeitritts noch im Rechtsstreit ist hiernach nicht erforderlich und ergibt sich auch nicht aus der Verwendung des Verbs "geltend machen". Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch macht einen Anspruch geltend, wer auf diesen hinweist und ihn durchsetzen will (vgl. Duden, Das Bedeutungswörterbuch 5. Aufl. "geltend"). Dies ist bereits bei einer vorprozessualen Inanspruchnahme der Fall.

[18] bb) Für die Varianten der Nr. 2 von § 115 Abs. 1 S. 1 VVG gilt Entsprechendes.

[19] (1) Ohne Erfolg macht die Revisionserwiderung insofern eine zeitliche Beschränkung der Fälle 1 und 3 dahingehend geltend, dass die den Direktanspruch begründenden Voraussetzungen mit Beendigung des Insolvenzbeziehungsweise Insolvenzeröffnungsverfahrens wegfielen. Nach den beiden Varianten besteht ein Direktanspruch, wenn über das Vermögen des VN das Insolvenzverfahren eröffnet (Fall 1) oder ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt worden ist (Fall 3). Auch wenn zwangsläufige Folge einer Verfahrenseröffnung oder der Bestellung eines vorläufigen Verwalters die Durchführung eines Insolvenzverfahrens beziehungsweise die Tätigkeit eines solchen Verwalters ist, reicht es nach dem Wortlaut aus, wenn es zu einer Verfahrenseröffnung oder Bestellung eines vorläufigen Verwalters gekommen ist. Ein noch andauerndes Insolvenzverfahren oder Tätigwerden eines vorläufigen Verwalters – zumal im Rechtsstreit und nicht nur bei Bestehen des Schadensersatzanspruchs des Dritten – wird nicht vorausgesetzt.

...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge