VVG § 19

Leitsatz

1. Die Verletzung der Anzeigepflicht (§ 19 Abs. 1 VVG) setzt voraus, dass nach den vom VN verschwiegenen Umständen in Textform gefragt worden ist. Soweit eine Frage unterschiedlich verstanden werden kann, braucht der VN nur das anzugeben, wonach zweifellos gefragt ist.

2. Wird im Antrag für den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung nach Kopfschmerzen mit einer "Häufigkeit von mehr als 2 x pro Monat" gefragt, stellt die Annahme des VN, einmalig in einem Zeitraum von etwa zwei Monaten aufgetretener und dann folgenlos abgeklungener Kopfschmerz brauche (in Ermangelung einer chronischen Natur) nicht angegeben zu werden, jedenfalls keine grob fahrlässige Fehleinschätzung der Gefahrerheblichkeit dar.

3. Der vom VN beauftragte Makler, der dem VN bei der Ausfüllung des Versicherungsantrags behilflich ist, ist nicht Wissenserklärungsvertreter, dessen Erklärungen dem VN zugerechnet werden, wenn er den Antrag auf Abschluss der Versicherung neben dem VN mitunterschreibt.

OLG Schleswig, Urt. v. 8.1.2024 – 16 U 107/23

1 Sachverhalt

Die 1989 geborene Kl. beantragte am 5.12.2013 über einen Versicherungsmakler bei der Bekl. den Abschluss einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Die im Antrag gestellten Fragen, ob sie in den letzten 5 Jahren Erkrankungen, Gesundheits- oder Funktionsstörungen gehabt habe, aufgrund derer sie in Behandlung gewesen sei, sind sämtlich mit "nein" beantwortet. Sie lauten:

Bestehen oder bestanden bei Ihnen in den letzten 5 Jahren Erkrankungen, Gesundheits- oder Funktionsstörungen, aufgrund derer Sie in Behandlung waren …

6.9. Kopfschmerzen (Schmerzdauer > 5 Stunden täglich, Häufigkeit > 2 x pro Monat) oder Migräne …

6.12. der Knochen, Gelenke, Muskeln, Bänder oder Sehnen (z.B. Bewegungseinschränkungen, Schmerzen, Arthritis, rheumatische Beschwerden, Verschleiß, Frakturen, Knieverletzungen, Beinverkürzungen, Bänderverletzungen, Hüftfehlstellungen, Schulter-Arm-Syndrom?

Mit der Übersendung der Vertragsunterlagen erhielt die Kl. eine "Mitteilung nach § 19 Abs. 5 VVG über die Folgen einer Verletzung der gesetzlichen Anzeigepflicht".

Die Kl. hatte am 27.10.2010 als Fahrgast in einem Bus einen Unfall erlitten, aufgrund dessen sie sich wegen Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit noch am selben Tag bei dem Durchgangsarzt vorstellte, der am 27.10.2010 zur Erstdiagnose einer HWS-Distorsion Folgendes ausführte:

"Die UV klagt [sic] Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit, keine äußeren Verletzungen erkennbar, keine Amnesie, UV allseits orientiert, regelrechte Pupillenreaktion auf L/C, regelrechte Bulbusmotilität, die paravertebrale Nackenmuskulatur ist leicht verspannt, die Kopfdrehbewegung ist beidseitig endgradig schmerzhaft … Empfehlung von Schonung und lokaler Wärmeanwendung".

Die zu der Zeit als Pharmazeutisch-Technische Assistentin in einer Apotheke beschäftigte Kl. war infolge des Unfalls bis zum 13.11.2010 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Im Bericht zur Nachuntersuchung vom 13.12.2010 (ebenfalls Anlagenkonvolut K 11) wird insoweit festgestellt: "Kopfrotation frei, Nackenmuskulatur nicht verspannt". Zu der Zeit klagte die Kl. allerdings weiterhin über fortbestehende Kopfschmerzen, die sie vor dem Unfall nicht gehabt habe. Wegen der Kopfschmerzen hatte bei der Nachuntersuchung eine MRT-Untersuchung empfohlen; spätestens seit Januar 2011 war die Kl. wieder beschwerdefrei.

Am 9.7.2017 erlitt die Kl. eine zerebrale Sinusvenenthrombose, aufgrund derer sie zunächst arbeitsunfähig krankgeschrieben war. Verschiedene Versuche, sie wieder in ihren Beruf als pharmazeutisch-technische Assistentin einzugliedern, scheiterten. Die Kl. leidet seither an kognitiven Einschränkungen und ist in ihrer Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt. Seit dem 9.7.2017 ist sie arbeitsunfähig. Die Kl. stellte bei der Bekl. einen Leistungsantrag. Die Bekl. erklärte daraufhin den Rücktritt von der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung.

Die Kl. begehrt die Feststellung, dass der seitens der Bekl. erklärte Rücktritt von der Berufsunfähigkeit ihr gegenüber unwirksam sei und der Vertrag zu unveränderten Bedingungen forbestehe …

2 Aus den Gründen:

Die Kl. hat einen Anspruch auf Feststellung des Fortbestands der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Der Vertrag ist durch die Rücktrittserklärung der Bekl. vom 23.7.2020 nicht wirksam gemäß § 19 Abs. 2 VVG beendet worden, da es jedenfalls an einer mindestens grobfahrlässigen Verletzung der Anzeigepflicht fehlt (§ 19 Abs. 3 VVG) und die Bekl. überdies selbst geltend macht, den Vertrag auch bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände, wenn auch zu anderen Bedingungen, geschlossen zu haben (§ 19 Abs. 4 S. 1 VVG).

1. Im Ergebnis kann dahinstehen, ob die Kl. eine Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 VVG verletzt hat, weil das Rücktrittsrecht der Bekl. jedenfalls nach § 19 Abs. 3 VVG mangels grober Fahrlässigkeit ausgeschlossen ist.

a) Hinsichtlich der nicht angegebenen Rückenbeschwerden nach dem Unfall in dem Bus würde es allerdings bereits an einer Pflichtverletzung fehlen, soweit es sich hierbei um eine nicht anzeigepflichtige Bagatellbe...

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