VV RVG Nrn. 3200 7008; ArbGG § 64 Abs. 7; ZPO § 91 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1
Leitsatz
1. Entfaltet der Prozessbevollmächtigte des Berufungsbeklagten Tätigkeiten, die über Neben- und Abwicklungstätigkeiten i.S.v. § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 RVG hinausgehen, fällt diesem eine Verfahrensgebühr an. Sie entsteht insbesondere, wenn der Rechtsanwalt die Vertretung des Mandanten anzeigt und beantragt, die gegnerische Berufung zu verwerfen bzw. zurückzuweisen.
2. Nach dem auch im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren anwendbaren § 91 Abs. 2 Satz 1 HS 1 ZPO sind die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei grundsätzlich zu erstatten. Diese Vorschrift bildet insofern eine Ausnahme, als sie für ihren Anwendungsbereich von der grundsätzlich gebotenen Prüfung der Notwendigkeit entstandener Kosten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung entbindet. Deshalb ist im Kostenfestsetzungsverfahren grundsätzlich nicht zu prüfen, ob die Partei für das Verfahren einen Rechtsanwalt beauftragen durfte und dies objektiv notwendig war. Maßgeblich ist vielmehr allein die Frage, ob eine verständige Prozesspartei in der gleichen Situation ebenfalls einen Anwalt beauftragt hätte. Dies ist für einen Rechtsmittelgegner der Regelfall.
3. § 91 Abs. 2 Satz 1 HS 1 ZPO hindert jedoch nicht zu überprüfen, ob die einzelne Maßnahme des Prozessbevollmächtigten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war. Prüfungsmaßstab ist hierbei, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftig denkende Partei die kostenauslösende Maßnahme im damaligen Zeitpunkt als sachdienlich ansehen durfte. Dabei beurteilt sich die Notwendigkeit aus der "verobjektivierten" ex-ante-Sicht der jeweiligen Prozesspartei und nicht nach einem rein objektiven Maßstab. (Leitsatz der Schriftleitung)
BAG, Beschl. v. 15.12.2023 – 9 AZB 13/23
1 Sachverhalt
Der Kläger hatte gegen das seine Klage abweisende Urteil des ArbG Berlin vom 2.3.2022, das ihm am 8.8.2022 zugestellt worden war, am 29.7.2022 Berufung eingelegt und diese mit einem am 6.10.2022 beim LAG Berlin-Brandenburg eingegangenen Schriftsatz begründet. Das LAG hat der Beklagten die Berufungsbegründungsschrift zugeleitet und beide Parteien unter dem 10.10.2022 darauf hingewiesen, die Frist zur Berufungsbegründung sei nicht gewahrt worden, sodass Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung bestünden. Die Berufungsbegründungsfrist sei nämlich am 2.8.2022 angelaufen und habe am 4.10.2022 geendet. Deshalb sei beabsichtigt, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen. Mit Schriftsatz vom 12.10.2022 hat hierauf der Kläger entgegnet, er teile die Auffassung des LAG nicht, weil die Berufungsbegründungsfrist erst am 10.10.2022 geendet habe.
Mit Schriftsatz vom 14.10.2022 haben die Prozessbevollmächtigten der Beklagten dem LAG ihre Vertretung angezeigt und beantragt, die Berufung des Klägers zu verwerfen bzw. zurückzuweisen. Nach weiterem gerichtlichem Hinweis vom 17.10.2022 hat der Kläger seine Berufung am 3.11.2022 schließlich doch zurückgenommen. Durch Beschl. v. 24.11.2022 hat das LAG Berlin-Brandenburg dem Kläger die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegt.
Hieraufhin hat die Beklagte die Festsetzung ihrer für das Berufungsverfahren angefallenen außergerichtlichen Kosten beantragt und – soweit hier von Interesse – eine 1,1 Verfahrensgebühr nach Nr. 3201 VV geltend gemacht. Der Rechtspfleger des ArbG hat den Kostenfestsetzungsantrag zurückgewiesen. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte sofortige Beschwerde, der der Rechtspfleger nicht abgeholfen hat, hat das LAG Berlin-Brandenburg zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen.
Mit ihrer hieraufhin eingelegten Rechtsbeschwerde hat die Beklagte geltend gemacht, die Sachanträge vom 14.10.2022 seien als Maßnahmen zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig gewesen. Die Rechtsbeschwerde hatte beim BAG Erfolg.
2 Aus den Gründen:
[5] … “II. Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässige (§ 575 ZPO) Rechtsbeschwerde ist begründet. Das LAG hat die sofortige Beschwerde der Beklagten gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss des ArbG zu Unrecht zurückgewiesen. Die Beklagte kann vom Kläger die Erstattung ihrer Rechtsanwaltskosten für das Berufungsverfahren verlangen. Ihre Prozessbevollmächtigten können für ihr Tätigwerden zumindest eine 1,1-fache Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3201 VV RVG sowie die Pauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG zuzüglich Umsatzsteuer beanspruchen. Die Verfahrensgebühr ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch erstattungsfähig i.S.d. § 91 ZPO.
[6] 1. Das LAG hat zutreffend unter Darstellung der Senatsrechtsprechung und der des BGH erkannt, dass die Prozessbevollmächtigten der Beklagten eine anwaltliche Tätigkeit entfaltet haben, die die zuletzt zur Erstattung verlangte 1,1-fache Verfahrensgebühr nach Nr. 3201 VV RVG ausgelöst hat.
[7] a) Nach § 15 Abs. 1 RVG entgelten die Gebühren die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts vom Auftrag bis zur Erledigu...