OWiG § 62

Leitsatz

Dem Betroffenen steht ein Anspruch dahingehend zu, Einsicht in sämtliche Wartungs- und Reparaturnachweise zu erhalten, die nach der verfahrensgegenständlichen Messung, aber vor dem Ende der Eichfrist vorgenommen worden sind. Demgegenüber ist einem Einsichtsgesuch auf die sog. Rohmessdaten eines Messgerätes nicht zu entsprechen, soweit diese vom Messgerät nicht (mehr) gespeichert werden.

AG Eilenburg, Beschl. v. 27.9.2023 – 8 OWi 281/23

1 Sachverhalt

Gegen den Betroffenen erging ein Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung (Geschwindigkeitsmessgerät eso ES8.0). Der Verteidiger hat u.a. Einsicht in die Lebensakte oder aber ggf. Reparatur-, Wartungs- und Instandsetzungsnachweise sowie die Rohmessdaten begehrt. Nachdem die Verwaltungsbehörde den Verteidiger darauf hingewiesen hatte, dass eine Übersendung der Rohmessdaten nicht möglich sei und eine Lebensakte nicht geführt werde, stellte der Verteidiger einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG, mit dem er die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde begehrt, dem Verteidiger die vollständigen Wartungs- und Reparaturnachweise sowie die Rohmessdaten zur Verfügung zu stellen. Die Verwaltungsbehörde hat diesem Begehren nicht abgeholfen. Nach mehrfachem Schriftwechsel legte die Verwaltungsbehörde eine tabellarische Aufstellung mit Instandsetzungen am Messgerät vor, woraus für den Zeitraum nach der routinemäßigen Eichung des Messgeräts zwei weitere Instandsetzungen hervorgehen. Das AG Eilenburg hat entschieden, dass dem Betroffenen Einsicht in sämtliche Wartungs- und Reparaturnachweise im Zusammenhang mit den Instandsetzungen des Messgeräts gewährt werden muss und hat im Übrigen den Antrag als unbegründet zurückgewiesen.

2 Aus den Gründen:

[…] II.

1. Der gemäß § 62 OWiG zulässige Antrag ist nur aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

a) Dem Betroffenen steht ein Anspruch auf Einsicht in sämtliche Wartungs- und Reparaturnachweise im Zusammenhang mit den Instandsetzungen des Messgeräts mit der Gerätenummer 8078 am 6.3.2023 und am 5.4.2023 zu.

1.) Dieser Anspruch ergibt sich unter Zugrundelegung der aktuellen Rechtsprechung des BVerfG. Danach fordert ein rechtsstaatliches und faires Verfahren in Anwendung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 GG "Waffengleichheit" zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Beschuldigten/Betroffenen andererseits. Der Betroffene hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18; speziell zur Rohmessdatenproblematik jüngst BVerfG, Beschl. v. 20.6.2023 – 2 BvR 1167/20).

Dieses Begehren auf Informationszugang zu den außerhalb der Bußgeldakte befindlichen und bei der Verwaltungsbehörde vorhandenen Informationen soll einen Betroffenen in die Lage versetzen, sich selbst Gewissheit darüber zu verschaffen, dass sich aus den dem Gericht nicht vorgelegten Inhalten keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben, und um beurteilen zu können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Das aus den aufgezeigten Verteidigungsinteressen eines Betroffenen hervorgehende umfassende Informations- und Einsichtsrecht kann dabei deutlich weitergehen als die Aufklärungspflicht des Gerichts in der Hauptverhandlung (vgl. bereits OLG Dresden, Beschl. v. 11.12.2019 – OLG 23 Ss 709/19 (B), BeckRS 2019, 37019).

Dabei gilt jedoch das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten nicht unbegrenzt, weil andernfalls die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs bestünde. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Die Frage, welche Information zur Aufklärung von Funktionsbeeinträchtigungen des Messgerätes beitragen kann, lässt sich nicht abstrakt-generell beantworten, sondern ist abhängig von dem konkreten Dokument und dem Umfang der begehrten Einsichtnahme.

Der Gewährung eines solchen Informationszugangs können zudem gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder auch schützenswerte Interessen Dritter widerstreiten. Auch müssen unter dem Gesichtspunkt der "Waffengleichheit" in der Rollenverteilung begründete verfahrensspezifische Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten von Verfolgungsbehörde und Verteidigung nicht in jeder Beziehung ausgeglichen werden.

2.) Unter Zugrundelegung des vorgenannten Maßstabs sind diese Voraussetzungen bei einem Einsichtsbegehren hinsichtlich der Wartungs- und Instand...

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