3.1. Nach der eingangs beschriebenen Auffassung sind die vertraglichen Obliegenheiten zur Gänze unwirksam. Es fehle an der Vereinbarung einer Obliegenheit i.S.d. § 28 Abs. 2 VVG. Begründet wird diese Auffassung in erster Linie zum einen mit dem Grundsatz des Verbots einer geltungserhaltenden Reduktion bei einem Verstoß gegen § 32 VVG, zum anderen mit einer nicht erfolgten Umstellung der Alt-AVB auf die aktuellen Bedingungen im Rahmen des Art. 1 Abs. 3 EGVVG.
Die praktischen Auswirkungen dieser Auffassung sind enorm: Der Versicherungsnehmer braucht auf Grundlage dieser Rechtsauffassung z.B. nicht mehr unverzüglich den Versicherungsfall anzuzeigen: In einem vom KG Berlin zum VVG a.F. entschiedenen Fall trat am 8.11.2000 aus einer Decke Leitungswasser aus. Der Versicherungsnehmer stellte die Wasserzufuhr ab und beauftragte Handwerker, die in der Zeit vom 8.11. bis 17.11.2000 eine komplette Reparatur durchführten und dafür knapp 24.000 DM in Rechnung stellten. Es wurden über 50 Meter an Rohrleitungen erneuert, also offenbar die komplette Wasserinstallation des Hauses. Erstmalig nach dem vollständigen Abschluss der Reparatur zeigte der Versicherungsnehmer am 7.12.2000 den Schaden seinem Wohngebäudeversicherer an. Dem Versicherer wurde eine Leistungsprüfung unmöglich gemacht, insb. die Prüfung, ob es sich bei den Arbeiten um Sanierungsarbeiten handelte, was sich bei der Menge der verlegten Rohre durchaus aufdrängte. Das KG Berlin ließ die Klage auf Grund dieser evidenten Obliegenheitsverletzung an § 6 Abs. 3 VVG a.F. scheitern. Wären die Alt-AVB allein auf Grund des Hinweises auf § 6 Abs. 3 VVG a.F. unwirksam, bliebe dieses Verhalten des Versicherungsnehmers selbst bei dessen vorsätzlichem Obliegenheitenverstoß sanktionslos. Maier, einer der Vertreter der Unwirksamkeit der Obliegenheiten, beschreibt dies für den Bereich der Kraftfahrtversicherung: "Die Konsequenz einer Unwirksamkeit aller vertraglich geregelten Obliegenheiten ist beträchtlich – der Versicherungsnehmer muss es in einem Fragebogen mit der Wahrheit nicht genau nehmen, kann ohne Führerschein fahren, Unfallflucht begehen, in der KH-Versicherung auch betrunken fahren – all das bliebe folgenlos (was sich vermutlich bald herumsprechen dürfte und überdies mit dem Gedanken der Versichertengemeinschaft kaum zu verbinden ist)."
3.2. Es gibt Lösungsansätze, die von einer teilweisen Wirksamkeit ausgehen, so etwa Wandt für Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalls. Nach dieser Auffassung stelle sich das Problem einer Teilunwirksamkeit nicht bei diesen Obliegenheiten, weil die Rechtsfolgen der Verletzungen von Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalls nicht ausschließlich vertraglich bestimmt seien. Dies ergebe sich aus § 28 Abs. 1 VVG.
Felsch weist darauf hin, dass die Obliegenheiten unwirksam sind, bei denen bereits der Tatbestand der Alt-AVB gegen das VVG 2008 verstößt. In diesem Fall ist "nicht nur die Rechtsfolgenseite betroffen, sondern es kann auch vorkommen, dass der Tatbestand einer Obliegenheit mit dem neuen Recht kollidiert, so etwa das in der Haftpflichtversicherung früher weit verbreitete Anerkenntnisverbot (jetzt unwirksam nach § 105). Zur Schweigepflichtsentbindung in der Personenversicherung – um ein weiteres Beispiel zu nennen – enthält § 113 eine Neuregelung, der frühere Klauseln nicht entsprechen dürften."
Bei den üblicherweise in den Alt-AVB geregelten Aufklärungs-, Mitwirkungs- und Belegobliegenheiten stellen sich die Bedenken allerdings nicht. Im VVG n.F. sind diese Obliegenheiten – gesetzgeberisch wenig überzeugend – nur als lex imperfecta in den §§ 30-31 VVG geregelt. Der BGH betont in einer Reihe von Entscheidungen die hohe Bedeutung dieser Obliegenheiten, insb. die der Aufklärungsobliegenheit für die Regulierungsprüfung des Versicherers.
3.3. Von zahlreichen Autoren wird vertreten, dass bei Zusammentreffen von Alt-AVB und VVG 2008 nicht die gänzliche Sanktionslosigkeit von Obliegenheitsverletzungen die Folge sei. Diese Auffassung entnimmt den – unproblematischen – Tatbestand einer Obliegenheitsverletzung den Alt-AVB und die Rechtsfolgen dem neuen VVG (hier folglich § 28 VVG). Es handelt sich um eine Art "Spaltungsmodell". In allen zum VVG 2008 vorliegenden Standardkommentierungen wird diese Auffassung vertreten, und zwar im Langheid/Wandt, im Looschelders/Pohlmann, im HK-VVG sowie nunmehr in der 28. Aufl. des Prölss/Martin.