4.1. Das grundsätzliche Verbot der geltungserhaltenden Reduktion ist ein Rechtsgrundsatz, der in der Rechtsanwendung recht flexibel angewandt wird. Allein der Hinweis auf das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion führt nicht ohne weiteres zur Unwirksamkeit der Regelungen in den Alt-AVB, insbesondere unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck dieses Verbots. Dieses soll verhindern, dass der Rechtsanwender seinen Geschäftsbedingungen zweifelhafte Klauseln in der Hoffnung zugrunde legt, dass, wenn ein Gericht teilweise eine Klausel verwirft, dies für ihn "nicht so schlimm" werde, da er mit "dem Rest" noch leben könne. Der Klauselverwender soll sich nicht an die Unwirksamkeit von Regelungen herantasten. Dieser ebenso richtige wie wichtige Schutzzweck dieses Rechtsgrundsatzes wird in der vorliegenden Konstellation nicht berührt. Die Versicherer nahmen die gesetzliche Regelung des § 6 VVG a.F. seinerzeit in die AVB auf und wiederholten in der Regel lediglich den Gesetzestext. Der Strafgedanke des Verbots passt nicht. Looschelders führt in seiner Kommentierung aus, dass die "gesamten Erwägungen zum Verbot der geltungserhaltenden Reduktion auf die vorliegende Problematik nicht zutreffen. Die Versicherer haben die unzulässigen AVB nämlich nicht in den Vertrag eingeführt, um sich einen unzulässigen Vorteil zu verschaffen. Die AVB orientieren sich vielmehr an der bei Abschluss des Vertrages gültigen Gesetzeslage."
Selbst bei Anwendung des Verbots der geltungserhaltenden Reduktion wäre im Obliegenheitenrecht die Klausel im Übrigen in einen wirksamen und unwirksamen Teil inhaltlich trennbar. Der wirksame Teil enthält eine aus sich heraus verständliche Regelung und kann aufrechterhalten bleiben.
4.2. Auch im Falle der Nichtigkeit der Klausel richtet sich der Inhalt des Vertrages gem. § 306 Abs. 2 BGB vorrangig nach den vorhandenen gesetzlichen Vorschriften. Vorliegend drängt es sich auf, zur Schließung dieser Lücke die Regelung des § 28 Abs. 2 Satz 2 VVG in Betracht zu ziehen. Auch und gerade im Bereich des Versicherungsvertragsrechts gibt es eine Reihe von Beispielen auch aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in denen eine ergänzende Vertragsauslegung erfolgt. Ein Rückgriff auf diesen Grundsatz ist statthaft, wenn gesetzliche Vorschriften im Sinne einer konkreten Ersatzregelung nicht vorliegen. Im nächsten Schritt ist, so der BGH, zu fragen, ob ein ersatzloser Wegfall der unwirksamen Klausel eine sachgerechte Lösung darstellt. Scheiden beide Möglichkeiten aus, ist zu prüfen, ob die Ersatzregelung nach den anerkannten Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung zulässiger Inhalt einer richterlichen ergänzenden Vertragsauslegung wäre.”
Aus der Rspr. des BGH kann exemplarisch auf eine Entscheidung zur Krankentagegeldversicherung verwiesen werden. Der BGH hatte in seinem Urteil die Regelung des § 15a MB-KT 78 (Vertragsbeendigung der Krankentagegeldversicherung bei Rentenbezug des Versicherungsnehmers) für unwirksam befunden. Der Senat entschied gleichzeitig, dass es – insoweit drängen sich die Parallelen zu der vorliegenden Konstellation auf – über den Schutzzweck einer Versicherung hinausgeht, dem Versicherungsnehmer einen Anspruch auf Krankentagegeldzahlungen auch für den Zeitraum zuzugestehen, in denen er eine Rente wegen Berufsunfähigkeit beziehe. Es sei eine nicht sachgerechte Privilegierung des Versicherungsnehmers, wenn der Versicherer einem wegen Berufsunfähigkeit rentenberechtigten Versicherungsnehmer nur deshalb weiterhin Krankentagegeld schulden würde, weil die Klausel zur Vertragsbeendigung unwirksam sei. Wäre den Parteien die Unwirksamkeit der entsprechenden Regelung bewusst gewesen, hätten sie bei sachgerechter Abwägung der beiderseitigen Interessen eine Regelung getroffen, die diese Lücke ausgefüllt hätte.
Die Ablehnung einer geltungserhaltenden Reduktion oder einer ergänzenden Vertragsauslegung würde zu recht ungewöhnlichen Folgefragen führen: Ist z.B. ein Versicherungsmakler, wenn künftig der Versicherer anbietet, den Vertrag auf die aktuellen Bedingungen umzustellen, verpflichtet, dem Versicherungsnehmer zu empfehlen, dieses Angebot abzulehnen, obwohl die neuen Versicherungsbedingungen günstiger sind? Muss er dem Versicherungsnehmer empfehlen, es bei den alten Bedingungen zu belassen, mit dem Hinweis, dass auf Grundlage der Auffassung von der Sanktionslosigkeit den Versicherungsnehmer ja keine Obliegenheiten mehr treffen? Wäre der Versicherungsnehmer in dem beschriebenen Falle des KG Berlin vom Makler gut beraten, es bei den alten Bedingungen zu belassen, um sich die Option offen zu halten, eine Komplettsanierung der maroden Rohrleitungen auf Kosten des Versicherers durchzuführen, indem erst nach erfolgter Reparatur der Versicherer hierüber informiert wird, da ihn ja keine wirksame Obliegenheit mehr zur unverzüglichen Schadenmeldung (§ 20 Ziff. 1 a VGB 88) oder des Veränderungsverbots (§ 20 Ziff. 1 e VGB 88) trifft?
Bei alledem ist demgegenüber zu berücksichtigen, dass sich ...