StVG § 11 S. 2 StVG; BGB § 253 Abs. 2
Leitsatz
1. Verlangt der Geschädigte wegen der Chronifizierung seiner unfallbedingten, behandlungsbedürftigen Erkrankung ein weiteres Schmerzensgeld, kann dem die Rechtskraft des vorangegangenen Schmerzensgeldurteils entgegenstehen.
2. Ob sich Verletzungsfolgen im Zeitpunkt der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes im Vorprozess nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen als derart nahe liegend darstellten, dass sie schon dort bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden konnten, beurteilt sich nicht nach der prozentualen Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Verletzungsfolgen. Entscheidend ist allein die objektive Möglichkeit des Geschädigten, das diesbezügliche Risiko zu diesem Zeitpunkt schmerzensgelderhöhend geltend zu machen.
3. Nur dann, wenn eine Berücksichtigung der Verletzungsfolge so gut wie ausgeschlossen erscheint, weil die Möglichkeit ihres Eintritts eher theoretischer Natur, ohne jegliche konkrete Anhaltspunkte ist, weswegen sie ein Sachkundiger nicht in eine Darstellung möglicher Verletzungsfolgen aufnehmen würde, fehlt es an der objektiven Möglichkeit in dem vorgenannten Sinne.
4. Ist die Behandlung der unfallbedingten Verletzung noch nicht abgeschlossen und lässt sich – wie regelmäßig – der Behandlungserfolg nicht sicher vorhersagen, besteht für den Geschädigten bei Erhebung seiner Schmerzensgeldklage die Gelegenheit wie auch der Anlass, entweder einen Aufschlag auf das Schmerzensgeld wegen des fortbestehenden Risikos geltend zu machen oder aber sich auf eine offene Teilklage zu beschränken, mit der die mögliche, aber noch nicht eingetretene Schadensfolge aus der Schmerzensgeldbemessung herausgenommen wird.
OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.4.2021 – I-1 U 152/20
Sachverhalt
Die Kl. kam über den plötzlichen Unfalltod ihres Mannes nicht hinweg, der 2003 bei einem Arbeitsunfall auf dem Betriebsgelände von einem Lkw erfasst und überrollt worden war. Nach den Feststellungen des Sachverständigen im Erstverfahren zeigte sie eine "prolongierte abnorme Trauerreaktion" mit depressiven Zügen. Es bestand noch 2008 akute Behandlungsbedürftigkeit. Unter intensiver psychotherapeutischer Behandlung sei aber, so der Sachverständige, damit zu rechnen, dass die erhebliche Instabilität und Dysbalance der Kl. gebessert und stabilisiert werden könne. Ob vereinzelte Symptome einen dauerhaften Krankheitswert erreichten, sei (aber) abschließend nicht sicher zu beurteilen.
Das LG hatte im Dezember 2008 unter Berücksichtigung dieser sachverständigen Feststellungen auf ein Schmerzensgeld von 5.000 EUR und die Feststellung erkannt, dass die Bekl. als Gesamtschuldner verpflichtet seien, der Kl. jeden weiteren über den ausgeurteilten Betrag hinausgehenden Schaden aus dem Verkehrsunfall (ihres Mannes) zu ersetzen.
Gut 10 Jahre später trug die Kl. auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes mit der Behauptung an, dass sie auch 16 Jahre nach dem dramatischen Unfalltod ihres Mannes noch an einer traumatischen verlustbezogenen Trauer in Form einer anhaltenden Anpassungsstörung leide. Die Symptome seien nunmehr auch mit suizidalen Tendenzen durchsetzt. Ihre langjährige Therapeutin habe diagnostiziert, dass sie noch immer an einer anhaltenden Anpassungsstörung leide, wobei nunmehr prognostisch nicht mit einer wesentlichen Besserung des Beschwerdebildes zu rechnen sei.
Das LG hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Kl. hatte keinen Erfolg.
2 Aus den Gründen:
"… II. Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das LG die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen, weil einem weitergehenden Anspruch der Kl. auf Zahlung eines Schmerzensgeldes die Rechtskraft des Urteils im Vorprozess entgegensteht."
1. Der Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes gebietet es, die Höhe des der Geschädigten zustehenden Schmerzensgeldes aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen (vgl. BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschl. v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 151 ff.; Urt. v. 6.12.1960 – VI ZR 73/60, VersR 1961, 164 f.; v. 20.3.2001 – VI ZR 325/99, VersR 2001, 876; v. 20.1.2015 – VI ZR 27/14, VersR 2015, 772; v. 10.7.2018 – VI ZR 259/15, juris Rn 6). Verlangt ein Geschädigter für erlittene Körperverletzungen uneingeschränkt ein Schmerzensgeld, so werden durch den Klageantrag alle diejenigen Schadensfolgen erfasst, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar waren oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden konnte (BGH, Urt. v. 11.6.1963 – VI ZR 135/62, VersR 1963, 1048, 1049; v. 8.7.1980 – VI ZR 72/79, VersR 1980, 975 f.; v. 24.5.1988 – VI ZR 326/87, VersR 1988, 929 f.; v. 7.2.1995 – VI ZR 201/94, VersR 1995, 471, 472; v. 20.3.2001 – VI ZR 325/99, VersR 2001, 876; v. 20.1.2004 – VI ZR 70/03, VersR 2004, 1334; v. 14.2.2006 – VI ZR 322/04, VersR 2006, 1090 Rn 7; v. 20.1.2015 – VI ZR 27/14, VersR...