BGB § 254 Abs. 1; StVG § 17 Abs. 1 u. 2; StVO § 9 Abs. 5 § 10 S. 1
Leitsatz
1. Auf das Rückwärtseinfahren vom Parkplatz auf eine Fahrbahn ist nicht § 9 Abs. 5 StVO, sondern § 10 Satz 1 StVO anzuwenden.
2. Will der rückwärts in die Fahrbahn einfahrende Ausparker der Alleinhaftung wenigstens teilweise entgehen, muss er den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis erschüttern, indem er darlegt und im Bestreitensfall beweist, dass er entweder bereits solange auf der Fahrbahn stand, dass sich der fließende Verkehr rechtzeitig auf ihn einzustellen hatte, oder dass er sich so weit von der Stelle des Einfahrens entfernt und sich so dem Verkehrsfluss angepasst hatte, dass das Einfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr für den weiteren Geschehensablauf ursächlich sein kann.
OLG Saarbrücken, Urt. v. 13.8.2020 – 4 U 6/20
Sachverhalt
Die Kl. hatte ihren Toyota Aygo auf dem Bürgersteig vor einem Kaffeehaus abgestellt und wollte von dort rückwärts auf die Straße fahren. Die Bekl. zu 1) war mit ihrem bei der Bekl. zu 2) haftpflichtversicherten Pkw auf dieser Straße unterwegs und hatte vor einem Fußgängerüberweg angehalten. Als sie ihre Fahrt fortsetzte, kam es zur Kollision mit dem Wagen der Kl., der mittlerweile die Straße erreicht hatte.
Die Kl. hat behauptet, sie habe im Zeitpunkt der Kollision gestanden. Der Unfall sei allein auf die Unachtsamkeit der Bekl. zu 1) zurückzuführen.
Die Bekl. haben behauptet, die Kl. sei nach Fortsetzung ihrer Fahrt in den Fahrweg des Fahrzeugs der Bekl. hineingefahren.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei allein ein Verstoß der Kl. gegen § 9 Abs. 5 StVO sowie § 10 S. 1 StVO erwiesen. Dagegen sei ein Verschulden der Bekl. zu 1) nicht nachweisbar. Dann aber sei es angemessen, dass allein die Kl. für den Schaden hafte.
Die gegen dieses Urteil von der Kl. eingelegte Berufung hat das OLG Saarbrücken zurückgewiesen.
2 Aus den Gründen:
"… II. Die Berufung der Kl. ist nach den §§ 511, 513, 517, 519 und 520 ZPO statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist mithin zulässig. Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet. Die angefochtene Entscheidung stellt sich im Prüfungsrahmen der §§ 513, 529, 546 ZPO im Ergebnis als richtig dar, weil Ansprüche gegen die Bekl. zu 1) gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG und gegen die Bekl. zu 2) gem. §§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, 1 PflVG aufgrund der nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmenden Abwägung zu verneinen sind, vielmehr die alleinige Haftung für die beim Unfallereignis v. 7.6.2018 in Sch. verursachten Schäden die Kl. trifft."
1. Allerdings ergibt sich die vollumfängliche Haftung der Kl. nicht, wie das LG in erster Linie angenommen hat (Bl. 152 d.A.), aus § 9 Abs. 5 StVO, sondern aus § 10 S. 1 StVO. § 9 StVO ist nur für Verkehrsvorgänge anwendbar, die auf Straßen stattfinden, und nicht auf das Einfahren auf eine Straße von einem Parkplatz (OLG Karlsruhe NJW-RR 2016, 352, 353 Rn 17; Senat r+s 2018, 37, 39 Rn 45).
2. Wer – wie die Kl. – rückwärts ausparkt, hat nach § 10 S. 1 StVO jede Gefährdung des fließenden Verkehrs auszuschließen. Zu den anderen Straßenteilen im Sinne dieser Vorschrift zählen anerkanntermaßen auch Parkplätze oder Parkstreifen (Scholten in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht 1. Aufl. § 10 StVO Rn 33). Eine Wiedereingliederung des anfahrenden Fahrzeugs in den fließenden Verkehr ist erst dann beendet, wenn es sich endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat und jede Auswirkung des Anfahrvorganges auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist (OLG Hamm, Urt. v. 27.3.2015 – I-11 U 44/14, juris Rn 6). Der von § 10 S. 1 StVO geforderte Gefährdungsausschluss ist der höchste Sorgfaltsmaßstab, den das deutsche Straßenverkehrsrecht kennt (Senat r+s 2018, 37, 38 Rn 36). Kommt es zu einem Unfall mit dem bevorrechtigten fließenden Verkehr, spricht der Anscheinsbeweis für das Alleinverschulden des rückwärts Ausparkenden (OLG Frankfurt a.M. VersR 1982, 1079). In diesen Fällen reicht zur Begründung des Anscheinsbeweises die Feststellung aus, dass es in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren zu einem Zusammenstoß gekommen ist (Scholten in Freymann/Wellner, a.a.O. Rn 60). Hierbei kommt es nicht darauf an, ob das einfahrende Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision steht oder sich in Bewegung befindet (OLG Celle NZV 2006, 309; Burmann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht 26. Aufl. § 10 StVO Rn 8). § 10 StVO knüpft nicht an eine ununterbrochene Bewegung des Einfahrenden an, sondern an das Eindringen aus einem Grundstück auf eine dem durchgehenden Verkehr dienende Fahrbahn, welches erst dann beendet ist, wenn sich das Fahrzeug endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat oder wenn es auf der Straße wieder verkehrsgerecht abgestellt ist (OLG Celle NZV 2006, 309). Fehl geht deswegen der Vortrag der Berufung, das schräg auf der Fahrbahn der Bekl. zu 1) nach der Behauptung der Kl. stehende Fahrzeug sei als Hindernis deutlich sichtbar und eine Gefährdung des fließenden Verkehrs s...