Auf den ersten Blick scheint die Sache ganz einfach: Wer eine ihm offenstehende, leicht zugängliche Möglichkeit zur Schadensminderung nicht nutzt, verstößt gegen die in § 254 Abs. 2 S. 1 letzter Hs. BGB normierte Schadensgeringhaltungspflicht. Verletzt der Geschädigte sie, kann er den aus dieser Unterlassung folgenden Schaden nicht ersetzt verlangen. – Nun; ist eine Vollkaskoversicherung keine solche leicht zugängliche Möglichkeit? Und kann der Geschädigte, der so versichert ist, nicht ohne Weiteres auf sie Zugriff nehmen?
Die gegen diesen Kurzschluss schon bislang von der h.M. vorgetragenen und jetzt auch vom BGH geteilten Bedenken nähren sich vor allem aus drei Überlegungen: Erstens handelt es sich bei einer Vollkasko-Versicherung um nichts anderes als eine private Vorsorge, die der Geschädigte aus eigenen Mittel angelegt hat und deren Inanspruchnahme oder eben Nicht-Inanspruchnahme deshalb grds. ihm überlassen bleiben muss. Zweitens riskiert der Geschädigte, der seine Vollkasko-Versicherung in Anspruch nehmt, seine Rückstufung, mag er diese im Endergebnis – aber eben u.U. nur nach mühevollem Streit – auch als weiteren Schaden ersetzt erhalten. Und drittens würde die Anerkennung dieser Obliegenheit die Pflicht des Schädigers, den Schaden nicht nur vollständig, sondern auch sofort auszugleichen, konterkarieren. Der Schädiger könnte sich auf Kosten Geschädigten Zeit lassen. Und das erscheint unerträglich.
Trotzdem gibt es Grenzen. Der BGH verortet sie bei § 242 BGB und es wird auch in Zukunft darum gehen, diese auszuloten. Es kann im Einzelfall treuwidrig sein, seine Vollkasko-Versicherung nicht in Anspruch zu nehmen, so wie es im Einzelfall treuwidrig sein kann, nicht auf eigenes Vermögen oder einen leicht zugänglichen Kredit zurückzugreifen (BGH, Urt. v. 18.2.2002 – II ZR 355/00). Der BGH nennt als Beispiel die von den Oberlandesgerichten in Koblenz und in München entschiedenen Fälle, in denen der Geschädigte wegen seiner Teilschuld ohnehin damit rechnen musste, einen Teil des Schadens selbst tragen zu müssen. Ob damit die Annahme einer entsprechenden Obliegenheit, wie das OLG München meinte (OLG München, Urt. v. 2.3.1984 – 10 U 3850/83, BeckRS 2008, 19127; a.A. OLG Naumburg, Urt. v. 19.2.2004 – 4 U 146/03, juris Rn 41), in Fällen ausscheidet, in denen die volle Haftung des Schädigers infrage steht, sagt der BGH nicht. Tatsächlich dürfte es auch bei grds. uneingeschränkter Haftung des Schädigers bzw. seiner Versicherung Fälle geben, in dem "ein ordentlicher und verständiger, insbesondere wirtschaftlich denkender Mensch anstelle des Geschädigten seinen Kaskoversicherer in Anspruch nehmen (würde), um den eigenen Schaden möglichst gering zu halten."
Für den Haftplicht-Versicherer bedeutet die Entscheidung, dass er die Regulierung auch dann nicht auf die lange Bank schieben darf, wenn er weiß, dass der Geschädigte über eine Vollkasko-Versicherung verfügt. Dem Geschädigten gibt sie größere Freiheit; allerdings muss auch ihm bewusst bleiben, dass es bei stetiger Schadensvergrößerung eines zureichenden Grundes bedarf, der die Nichtinanspruchnahme der gegebenen Möglichkeit zu rechtfertigen vermag.
VRiOLG a.D./RA Dr. Hans-Joseph Scholten
zfs 7/2021, S. 376 - 379