BGB § 254 § 823; StVO § 3 Abs. 1 S. 4
Leitsatz
1. Die Frage, wie schnell ein Rodler unterwegs sein darf, ohne gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt zu verstoßen, lässt sich nicht allgemein und ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände beantworten. Im konkreten Einzelfall kann der Rechtsgedanke des § 3 Abs. 1 S. 4 StVO herangezogen werden, sodass der Rodler nur so schnell unterwegs sein darf, dass er innerhalb der überschaubaren Strecke anhalten kann. (Rn 20)
2. Ein "non liquet" zum Unfallhergang führt nicht ohne weiteres zur Klageabweisung, sondern dazu, dass bei der Prüfung eines Sorgfaltspflichtverstoßes des Bekl., für welchen der Kl. beweispflichtig ist, von der Version des Bekl. auszugehen ist. Bei der Frage eines Mitverschuldens, für welches der Bekl. beweispflichtig ist, ist hingegen die Version des Kl. zugrunde zu legen. (Rn 14 und 28)
3. An einen Rodler sind angesichts der drohenden Gefahr der Kollision mit entgegenkommenden Fußgängern dieselben Anforderungen zu stellen wie bei einer unklaren Verkehrslage im Straßenverkehr, bei welcher man im Zweifel durch Bremsen Klarheit für die anderen Verkehrsteilnehmer schaffen muss. (Rn 18)
4. Es besteht keine generelle Pflicht zur "Beleuchtung" von Fußgängern, um von anderen Verkehrsteilnehmern möglicherweise besser gesehen zu werden. (Rn 39)
OLG München, Urt. v. 23.2.2022 – 7 U 195/21
Sachverhalt
[1] A. Die Parteien streiten um Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aufgrund eines Unfalls beim Rodeln.
[2] Am 5.12.2017 kurz nach 20.00 Uhr fuhr der Beklagte auf einem Rodel sitzend von der Oberen F. im Landkreis M. talabwärts in Richtung S.-see. Hinter ihm auf demselben Schlitten saß die Zeugin E. Bei der "Rodelbahn" handelt es sich um einen F.-weg, der sowohl von abfahrenden Rodlern als auch von zu Fuß aufsteigenden Personen benützt wird. Die Breite des Forstweges ist zwischen den Parteien streitig. Die Strecke ist durch eine seitwärts angebrachte Lichterkette schwach; zudem schien im Unfallzeitpunkt der Mond. Aus Sicht des Beklagten befand sich rechts neben der Rodelbahn abfallendes Gelände ("Talseite") und links neben der Rodelbahn ansteigendes Gelände ("Bergseite").
[3] Von unten aus Richtung S.see näherten sich auf dem F.-weg der Kläger und der Zeuge Sch zu Fuß, wobei sie jeweils einen Schlitten hinter sich herzogen. An einem nicht genau festgestellten Ort etwa 20 Gehminuten oberhalb des S.-sees kollidierte der Beklagte mit der rechten Kufe seines Rodels mit dem linken Knie des Klägers; der Unfall fand im Tiefschnee knapp neben der Rodelbahn auf der Bergseite (also aus Sicht des Klägers rechts und aus Sicht des Beklagten links neben der Bahn) statt. Durch den Unfall wurde der Kläger nicht unerheblich verletzt.
[4] Nach der Version des Klägers ereignete sich der Unfall wie folgt: Der Kläger und der Zeuge Sch seien (jeweils mit ihren Rodeln in Schlepp) zunächst nebeneinander gegangen. Ganz rechts (also auf der Bergseite) sei der Zeuge Sch gegangen, links daneben der Kläger. Als der Kläger den entgegen kommenden Rodel des Beklagten aus ca. 200 m Entfernung gesehen habe, sei er nach rechts vor dem Zeugen eingeschert. Als er aus ca. 40 m Entfernung erkannt habe, dass der Rodel auch nach (aus Sicht des Klägers) rechts (Bergseite) gelenkt habe, sei er nach rechts in den Tiefschnee gesprungen.
[5] Nach der Version des Beklagten sei dieser mit etwa 20 km/h (von ihm als "Fahrradgeschwindigkeit" bezeichnet) talwärts gefahren. Der Kläger habe sich aus Sicht des Beklagten rechts (Talseite) genähert. Er habe den Kläger aus etwa 30 – 40 m Entfernung bemerkt und den Rodel nach links (Bergseite) gelenkt, um dem Kläger auszuweichen; zeitgleich hätten er und die hinter ihm sitzende Zeugin E. mit einer Vollbremsung begonnen, indem sie die Fersen ihrer Bergschuhe in den Schnee kerbten. Zugleich sei aber der Kläger (aus Sicht des Beklagten) nach links zur Bergseite hinübergelaufen, so dass er eine Kollision habe nicht vermeiden können.
[6] Mit seiner Klage machte der Kläger ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, welches aber mindestens 30.000,– EUR betragen solle, geltend; ferner begehrt er die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Schäden sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Kosten.
[7] Der Kläger hat beantragt,
I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
II. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, alle vergangenen und zukünftigen materiellen und weiteren immateriellen Schäden (letztere, soweit sie derzeit nicht vorhersehbar sind), welche aus dem Unfall vom 5.12.2017 resultieren, zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
III. Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger freizustellen von den außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren der Rechtsanwälte Q., R. Str. 12/V, M. aus der Kosten...