StGB § 315c
Leitsatz
§ 315c Abs. 1 StGB setzt in allen Tatvarianten eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Erforderlich ist die Feststellung eines "Beinahe-Unfalls". Dies erfordert bspw. für den Fall einer Kollision Darlegungen zu den Abständen zwischen den Fahrzeugen, den von ihnen zum Zeitpunkt des Einscherens gefahrenen Geschwindigkeiten und zur Intensität der zur Vermeidung einer Kollision vorgenommenen Bremsung. (Leitsatz der Redaktion)
BGH, Beschl. v. 2.2.2023 – 4 StR 293/22
1 Sachverhalt
Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten besonders schweren Raubes in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und mit verbotenem Kraftfahrzeugrennen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt und eine isolierte Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von drei Jahren verhängt. Der BGH hat auf die Revision des Angeklagten das Urteil des LG im Schuldspruch dahingehend geändert, dass die Verurteilung wegen tateinheitlicher vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs entfällt und im Maßregelausspruch dahin, dass die Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis auf sechs Monate herabgesetzt wird.
2 Aus den Gründen:
[…]
[2] 1. Der Schuldspruch wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b), Abs. 3 Nr. 1 StGB im Fall B 2 der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil die Urteilsgründe nicht ergeben, dass durch den von dem Angeklagten eingeleiteten falschen Überholvorgang eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert herbeigeführt worden ist.
[3] a) Nach den Feststellungen zu Fall B 2 der Urteilsgründe fuhr der Angeklagte auf die BAB 45 auf und beschleunigte sofort stark auf über 200 km/h, um sich einer Kontrolle durch ihn mit einem Streifenwagen verfolgende Polizeibeamte zu entziehen. Anschließend befuhr er über eine Strecke von mehr als 60 km die BAB 45, wobei er zum Zwecke der Flucht vor dem ihn durchgehend verfolgenden polizeilichen Einsatzfahrzeug stets versuchte, nach den konkreten Gegebenheiten die maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen und entsprechend der Motorisierung seines Fahrzeugs und der konkreten Verkehrslage "alles aus seinem Fahrzeug herauszuholen". Dabei überholte er, möglichst unter konstanter Beibehaltung einer Geschwindigkeit von über 200 km/h fahrend, mehrfach andere Verkehrsteilnehmer links und rechts, wobei er andere Fahrzeuge auch unter grober Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bedrängte und zum Wechsel auf die rechte Spur nötigte. Im Verlauf der Fahrt musste er u.a. aufgrund einer Baustelle eine Fahrbahnverengung passieren, wobei an der konkreten Stelle eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h vorgeschrieben war. Der Angeklagte fuhr an dem stockenden Verkehr vorbei, indem er diesen unter Ausnutzung des Standstreifens rechtsseitig mit einer Geschwindigkeit von 160 km/h überholte. Am Ende des Standstreifens bremste er stark ab und "scherte abrupt und ruckartig" in gefährlicher Fahrweise nach links vor einem anderen Pkw ein. Das Fahrzeug musste "stark abbremsen" um eine Kollision zu vermeiden.
[4] Anschließend beschleunigte der Angeklagte wiederum stark und zog auf die rechte der nun getrennt verlaufenden Fahrspuren, welche er mit 140 km/h befuhr. Im weiteren Verlauf konnte er infolge der Einspurigkeit der Fahrbahn einen vor ihm fahrenden Lkw nicht mehr überholen und fuhr trotz eingeleiteter Vollbremsung auf dessen Anhänger auf, wodurch an diesem ein Schaden in Höhe von 2.814,35 EUR entstand.
[5] b) Diese Feststellungen tragen die Annahme des objektiven Tatbestandes der Gefährdung des Straßenverkehrs nicht. § 315c Abs. 1 StGB setzt in allen Tatvarianten eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Dies ist nach gefestigter Rechtsprechung der Fall, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist die Feststellung eines "Beinahe-Unfalls", also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei "noch einmal gut gegangen" (st. Rspr.; BGH, Beschl. v. 6.7.2021 – 4 StR 155/21, juris Rn 5).
[6] Hieran gemessen fehlt es an Feststellungen, die einen "Beinahe-Unfall" in diesem Sinne belegen. Die Urteilsgründe sind auf die Wiedergabe der tatgerichtlichen Wertung beschränkt, dass eine Kollision nur durch eine starke Bremsung habe vermieden werden können. Es fehlt an Darlegungen zu den Abständen zwischen den Fahrzeugen, den von ihnen zum Zeitpunkt des Einscherens gefahrenen Geschwindigkeiten und zur Int...