StGB § 64 S. 2 § 67d
Leitsatz
Während sich die Frage der Schuldfähigkeit auf den Tatzeitpunkt bezieht, muss der Hang i.S.d. § 64 StGB zum Urteilszeitpunkt bestehen. Sein Vorliegen zu diesem Zeitpunkt muss sicher festgestellt sein. Zweifel wirken sich zugunsten des Angeklagten aus und stehen einer Maßregelanordnung entgegen. (Leitsatz der Redaktion)
BGH, Beschl. v. 1.3.2023 – 4 StR 349/22
1 Sachverhalt
Der zum Urteilszeitpunkt 40-jährige Angeklagte konsumierte seit seiner Jugendzeit Alkohol, Cannabis und Crystal. Ein stationärer Therapieversuch Ende 2019 wurde nach wenigen Tagen abgebrochen und der Angeklagte setzte den Cannabis- und Crystalkonsum fort. Seit April 2021 "hat der Angeklagte nach seinen Angaben nicht mehr konsumiert, weil er dies seiner Lebensgefährtin versprochen habe". Zum Zeitpunkt der Taten (Tatzeitraum November 2017 bis November 2019) ist das Landgericht – der psychiatrischen Sachverständigen folgend – von einem "Abhängigkeitssyndrom von Alkohol, Methamphetamin und Cannabis" ausgegangen. Die Maßregelanordnung hat es u.a. damit begründet, dass bei dem Angeklagten eine "Suchtmittelabhängigkeit" und damit ein Hang i.S.d. § 64 StGB vorliege. Zur Begründung der Erfolgsaussicht der Maßregel hat es (lediglich) ausgeführt, dass die konkrete Aussicht im Sinne des § 64 S. 2 StGB bestehe, den Angeklagten zumindest über einen erheblichen Zeitraum vor suchtbedingtem Alkoholkonsum zu bewahren und damit das Ausmaß der von ihm ausgehenden Gefährlichkeit deutlich herabzusetzen. Darüber hinaus hat die Kammer den Angeklagten unter Heranziehung der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen angesehen. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Im Übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen. Außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet und die Vollstreckung von Gesamtfreiheitsstrafe und Maßregel zur Bewährung ausgesetzt. Zudem hat es eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von einem Jahr und zehn Monaten angeordnet. Der BGH hat auf die Revision des Angeklagten das Urteil des LG im Maßregelausspruch aufgehoben, im Umfang der Aufhebung die Sache zurückverwiesen und die weiter gehende Revision verworfen.
2 Aus den Gründen:
[…] II.
[6] Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt kann nicht bestehen bleiben. Die Voraussetzungen des Hanges und der Erfolgsaussicht sind nicht hinreichend belegt.
[7] 1. Zum Vorliegen eines Hanges i.S.d. § 64 StGB hat die Strafkammer lediglich ausgeführt, dass bei dem Angeklagten eine "Suchtmittelabhängigkeit" und damit eine ihn treibende Neigung, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, vorliege. Diese Begründung hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
[8] Während sich die Frage der Schuldfähigkeit auf den Tatzeitpunkt bezieht, muss der Hang i.S.d. § 64 StGB zum Urteilszeitpunkt bestehen (vgl. BGH, Beschl. v. 19.2.2019 – 2 StR 599/18, juris Rn 15; BGH, Beschl. v. 1.3.2001 – 4 StR 36/01, juris Rn 8). Sein Vorliegen zu diesem Zeitpunkt muss sicher festgestellt sein. Zweifel wirken sich zugunsten des Angeklagten aus und stehen einer Maßregelanordnung entgegen (LK-StGB/Cirener, § 64 Rn 53).
[9] Zwar ist dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe zu entnehmen, dass das LG – der psychiatrischen Sachverständigen folgend – zum Zeitpunkt der Taten (Tatzeitraum November 2017 bis November 2019) von einem "Abhängigkeitssyndrom von Alkohol, Methamphetamin und Cannabis" ausgegangen ist. Dagegen ist eine die Voraussetzungen eines Hanges zum Urteilszeitpunkt am 28.3.2022 tragende Überzeugungsbildung der Strafkammer nicht dargetan. Vielmehr hat sich das Landgericht nach den getroffenen Feststellungen auf der Grundlage der Einlassung des Angeklagten davon überzeugt, dass dieser seit April 2021 keinen Cannabis- und Crystalkonsum mehr betrieben hat. Zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen eines Hanges im Bezug auf etwaigen Alkoholkonsum zum Urteilszeitpunkt verhalten sich die Urteilsgründe nicht.
[10] 2. Die lediglich Teile des Gesetzeswortlauts wiedergebenden Ausführungen zur Erfolgsaussicht der Maßregel sind unzureichend. Denn sie lassen eine Benennung der durch das Tatgericht als prognostisch bedeutsam bewerteten Umstände ebenso wie deren eigenverantwortliche Würdigung vollständig vermissen. Dies ist rechtsfehlerhaft.
[11] Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf nach § 64 S. 2 StGB nur angeordnet werden, wenn die hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Verurteilten durch die Behandlung innerhalb der Frist des § 67d Abs. 1 S. 1 oder 3 StGB zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf den Hang zurückgehen. Notwendig, aber auch ausreichend für die vom Tatgericht zu treffende Prognose ist eine auf Tatsachen gegründete Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs. Einer sicheren und unbedingten Gewähr bedarf es hier...