StVO § 5
Leitsatz
1. Ein Verstoß gegen § 5 Abs. 2 S. 2 StVO wird regelmäßig erst ab einer Differenzgeschwindigkeit von 10 km/h anzunehmen sein, was bei einer Geschwindigkeit des überholenden Fahrzeugs von 80 km/h einer Dauer des Überholvorgangs von 45 Sekunden entspricht.
2. Das Amtsgericht muss zur Ermöglichung einer Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht auch mitteilen, auf welche Weise es zur Feststellung der verstrichenen Zeit beim Überholvorgang gelangt ist. Eine rein gefühlsmäßig durch einen Zeugen geschätzte Zeitdauer ist wegen der damit verbundenen Unsicherheiten nicht ausreichend. (Leitsätze der Redaktion)
BayObLG, Beschl. v. 6.2.2024 – 202 ObOWi 90/24
1 Sachverhalt
Das AG hat den Betroffenen wegen einer als Führer eines Lkws fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeit des Nichteinhaltens des Mindestabstands von 50 m zum vorausfahrenden Fahrzeug gemäß § 4 Abs. 3 StVO "und" des Überholens, obwohl die gefahrene Geschwindigkeit nicht wesentlich höher war als die des überholten Fahrzeugs, gemäß § 5 Abs. 2 S. 2 StVO zur Geldbuße von 200 EUR verurteilt und gegen ihn ein einmonatiges Fahrverbot nach Maßgabe des § 25 Abs. 2a StVG verhängt.
Das AG hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen: Der Betroffene befuhr als Fahrer eines Sattelzugs mit Auflieger (zulässige Gesamtmasse über 3,5 t) die Bundesautobahn A 94 und überholte zwei vor ihm fahrende Fahrzeuge. Für den Überholvorgang benötigte er insgesamt eine Zeitspanne von mehr als 1 Minute, wodurch es zu einem "Rückstau" mehrerer Fahrzeuge kam. Nach dem Einscheren auf die rechte Spur betrug der Abstand zu dem vor ihm fahrenden Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von mehr als 50 km/h weniger als 10 m. Dazu, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit sich der Vorfall ereignete, verhält sich das Urteil nicht.
Das BayObLG hat auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des AG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
2 Aus den Gründen:
[…] III. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des AG kann aufgrund der erhobenen Sachrüge keinen Bestand haben.
1. Das angefochtene Urteil ist bereits deswegen materiell-rechtlich fehlerhaft, weil das festgestellte Tatgeschehen mangels Angabe der Tatzeit nicht ausreichend konkretisiert ist.
2. Darüber hinaus ist die Beweiswürdigung in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.
a) Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die Prüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht nur der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder überhöhte Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung gestellt wurden oder sich auf nichtexistierende Erfahrungssätze stützt (st.Rspr., vgl. zuletzt nur BGH, Urt. v. 23.3.2023 – 3 StR 277/22).
b) Derartige Mängel haften der Beweiswürdigung des Amtsgerichts an. Die diesbezüglichen Ausführungen sind in mehrfacher Hinsicht lückenhaft.
aa) Das Amtsgericht hat bereits nicht in einer geschlossenen Darstellung wiedergegeben, ob und wie sich der Betroffene bzw. ein mit Vertretungsvollmacht versehener Verteidiger für den Betroffenen in der Hauptverhandlung eingelassen hat. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Wiedergabe der Einlassung zur sachlich-rechtlichen Überprüfung der Beweiswürdigung grundsätzlich geboten (BGH, Beschl. v. 27.9.2023 – 4 StR 148/23), weil diese den Umfang der Beweiswürdigung bestimmt. Das angefochtene Urteil erwähnt indes nur summarisch, wie sich der Betroffene "positioniert" habe. Eine in sich geschlossene Wiedergabe der Einlassung zu den Schuldvorwürfen erfolgt nicht. Überdies nimmt das Amtsgericht in diesem Zusammenhang auf Aktenstellen Bezug und verstößt damit gegen den Grundsatz, dass ein Urteil aus sich heraus verständlich sein muss (vgl. zuletzt nur BayObLG, Beschl. v. 18.10.2023 – 202 StRR 76/23, DAR 2024, 36). Die Vorschrift des § 267 Abs. 1 S. 3 StPO gestattet lediglich die Verweisung auf Abbildungen, nicht aber auf sonstige Aktenteile, wie dies das Amtsgericht getan hat. Schließlich kommt es allein auf die Einlassung in der Hauptverhandlung, nicht aber auf etwaiges schriftsätzliches Vorbringen an, falls der Betroffene oder gegebenenfalls ein bevollmächtigter Vertreter an dieser teilgenommen hat. Ob Letzteres der Fall war, kann der Urteilsurkunde ebenfalls nicht entnommen werden. Nicht einmal im Urteilseingang und schon gar nicht in den Urteilsgründen wird dargetan, ob der Betroffene oder gegebenenfalls ein Vertreter in der Hauptverhandlung anwesend war.
bb) Darüber hinaus ist die Beweiswürdigung hinsichtlich des Verstoßes gegen § 5 Abs. 2 S. 2 StVO, der ein Überholen nur erlaubt, wenn der Überholende mit wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende fährt, insofern l...