RAuN a.D. Ulrich Ziegert
"Jemand musste Josef K verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Dieser erste Satz des Romans "Der Prozess" von Franz Kafka – die vermutlich berühmteste Exposition eines modernen deutschsprachigen Romans (Alt) – enthält bereits essenziell das Thema des Romans. Es bleibt dunkel, warum K verhaftet wird, wenn er nichts Böses getan hat. Die Perspektive des Gerichts, das die Verhaftung angeordnet hat, und die Sicht des K, der alle Schuld leugnet, sind unvereinbar. Hierdurch wird K’s Schicksal bestimmt. Auch, wenn er nicht arretiert wird, was in der formaljuristischen Kategorie der Verhaftung eigentlich angelegt ist, gibt es fortan für ihn keine geschützte Privatsphäre mehr. Die Gerichtswelt ragt sogar in seine Arbeitswelt hinein. Man fühlt sich an einen Satz aus Thomas Bernhards Erzählung "Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?": "Die ganze Welt ist eine einzige Jurisprudenz" erinnert. Josef K’s verzweifelte Bemühungen, das Gericht von seiner Unschuld zu überzeugen, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sein Onkel hielt ihm denn auch entgegen: "Einen solchen Prozess haben, heißt ihn schon verloren haben". Am Ende wird K, ohne dass ein Urteil auch nur erwähnt wird, hingerichtet.
Es soll hier nicht der Frage, worin K’s Schuld eigentlich zu sehen ist, nachgegangen werden. Stattdessen soll ein kurzer Blick darauf geworfen werden, wie Gericht und Advokatur charakterisiert werden. Mit der Omnipräsenz des Gerichtshofes kontrastiert die dürftige Ausstattung der Kanzleiräume. K ist überrascht darüber, wie wenig Geldmittel diesem Gericht zur Verfügung stehen. Das kommt dem zeitgenössischen Juristen nur allzu bekannt vor. Kafka zeichnet ein Bild der Advokatur, das dem Status des Anwalts als Organ der Rechtspflege Hohn spricht. K muss sich von seinem Anwalt Huld sagen lassen: "Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet". Die Eingaben des Verteidigers werden nicht gelesen oder gehen gar verloren. Der Advokat kennt nicht einmal die Anklage, geschweige denn, dass er an Verhören teilnehmen kann. Um ihre Existenz zu rechtfertigen, pflegen Advokaten sich "auf geradezu hündische Weise" zu demütigen und "Schmeicheleien" vorzutragen.
Man kann sich damit beruhigen, dass konventionelle Rechtsbegriffe in Kafkas Welt nicht gelten. Die Romanwelt des Gerichts ist anders kodiert, als wir das nach unserer Alltagserfahrung mit der Justiz gewohnt sind, mag auch die Interpretation des Gerichts als Machtapparat nicht völlig unplausibel sein. Die Gesetzesmetapher wird von dem Juristen Kafka in einer Weise entfaltet, die die Zweidimensionalität der Sprache (Müller-Dietz) literarischer Texte, die übrigens auch juristischen Texten nicht fremd ist, widerspiegelt. In der Bundesrepublik gilt das Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Das neue RDG, das u.a. die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen aus Anlass eines Verkehrsunfalls als anwaltliches Arkanum erhalten hat, lässt eine durchaus hehrere Vorstellung von Funktion und Bedeutung der Anwaltschaft, als im Roman beschrieben, erkennen.
Dem Roman lässt sich u.a. eine Vorahnung totalitärer Machtstrukturen entnehmen. Gelegentlich nimmt sogar der moderne Rechtsstaat in seinem Bemühen, mit dem Verbrechen Schritt zu halten und die Sicherheit seiner Bürger (Wähler!) zu erhöhen, kafkaeske Züge an. Stichworte für diese Sicht sind z.B. die Raster- und Schleppnetzfahndung sowie das Eindringen des Staates in die Privatsphäre in Gestalt von Online-Durchsuchungen und umfangreicher Telefonüberwachung. Dagegen sollte man heute im Rahmen von Fahreignungsprüfungen durchgeführte medizinisch-psychologische Untersuchungen, mögen sie auch für manchen Probanden angsttraumbelastet sein, nicht mehr in diese Schublade stecken.
Kafkas "Der Prozess" gehört zum ehernen Bestand der Weltliteratur. Er fordert nicht nur den Literaturliebhaber, sondern auch den Juristen immer wieder heraus.