Robert Musil beginnt seinen Roman "Der Mann ohne Eigenschaften", einen sog. Reflexionsroman (Sylvio Vietta), der trotz 1810 Seiten ein Fragment geblieben ist, mit dem Bericht eines Autounfalls "an einem schönen Augusttag des Jahres 1913". Ein Lkw erwischt einen Fußgänger, bevor er nach einem vergeblichen Bremsversuch des Fahrers zum Stillstand kommt. Zwei namentlich nicht genannte Passanten, "eine Dame und ihr Begleiter", gesellen sich, auf den Unfall aufmerksam geworden, anderen Zuschauern zu.
"Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war, für Mitleid zu halten" … "Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg. Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert" … "Es genügte ihr, dass damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und jetzt zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging."
Nachdem der Rettungsdienst den Verunglückten auf einer Tragbahre abtransportiert hat, geht man "fast mit dem berechtigten Eindruck davon, dass sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe."
Der Herr weist abschließend auf eine amerikanische Statistik, derzufolge dort jährlich durch Autos 190.000 Personen getötet und 450.000 verletzt werden, hin. (MoE 11)
Der Autounfall wird hier nicht mehr als ein öffentliche Empörung auslösendes Ausnahmegeschehen, bei dem etwa ein "Turbofahrer" die Kontrolle verloren hätte, wahrgenommen. Vielmehr erscheint der Unfall – wohl in der modernen Literatur zum ersten Mal – als etwas, das dem Verkehr systemimmanent ist, dessen Singularität hinter einer statistischen Erfassung verschwindet. Musil rückt den Kfz-Unfall in die Normalität des Straßenverkehrs, dessen geordneter technischer Ablauf hierdurch nur kurzfristig gestört und sodann – heute unter der Regie der Polizei – wiederhergestellt wird. Nicht von ungefähr hat sich bei allen Zuschauern der Eindruck festgesetzt, Zeuge eines stinknormalen, gesetz- und ordnungsmäßig abgelaufenen Ereignisses geworden zu sein. Auch die anfängliche Irritation der beiden Passanten verfliegt schnell, nachdem sie sich für das Unfallgeschehen eine plausible Erklärung (der Bremsweg ist zu lang) zurechtgelegt haben.
Dem zeitgenössischen Verkehrsjuristen ist längst vertraut, dass der Unfall in der modernen Gesellschaft zu einer statistischen Größe geschrumpft ist. Er verwandelt sich unter der Hand in einen Versicherungsfall. Das Unfallrisiko wird durch eine differenzierte Haftungsregelung sowie durch kollektive Sicherungssysteme bewältigt und gebiert keine schlaflosen Nächte mehr. Die Logik der vorrangigen statistischen Betrachtungsweise, die der Roman aufzeigt, findet ihren adäquaten Ausdruck in der Überschrift des ersten Kapitels: "Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht" (MoE 9) Nicht ohne Grund hat man (Matthias Bickenbach) diesem ersten Kapitel eine der tiefsinnigsten Unfalldarstellungen in der Literatur attestiert.