RVG §§ 14 Abs. 1, 19 Abs. 1 NR. 2; VV RVG Nr. 2300, 3309; BGB § 254
Leitsatz
Die vorgerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts vor Erhebung einer Vollstreckungsabwehrklage löst die allgemeine Gebühr für das Betreiben des Geschäfts aus.
BGH, Urt. v. 13.1.2011 – IX ZR 110/10
Sachverhalt
In dem notariellen Vertrag vom 25.4.2001 hatte der Kl., der zu diesem Zeitpunkt noch mit der Bekl. verheiratet war, die Erklärung abgegeben, dieser (umgerechnet) 70.046,98 EUR als Darlehen zu schulden. Wegen dieses Anspruchs unterwarf er sich der sofortigen Zwangsvollstreckung aus der notariellen Urkunde. Ein Jahr später verkaufte er der Bekl. seinen ideellen Miteigentumsanteil an dem gemeinsamen Hausgrundstück. In dem Vertrag vereinbarten die Parteien, dass die Bekl. anstelle eines Kaufpreises auf die Darlehensforderung verzichtete. Der Vertrag wurde vollzogen.
Nach der Scheidung der Ehe ließ die Bekl. in Kenntnis all dieser Umstände den Kl. mit Anwaltsschreiben vom 26. Mai 2008 auffordern, das Darlehen nebst Zinsen, zusammen 75.674,10 EUR, zurückzuzahlen. In dem an die Rechtsanwälte des Kl. adressierten Aufforderungsschreiben setzte die Bekl. dem Kl. unter Androhung der Zwangsvollstreckung eine Zahlungsfrist bis zum 10.7.2008. Der Kl. ließ die Forderung durch seine Anwälte unter Hinweis auf die Verrechnung im notariellen Kaufvertrag zurückweisen. Zugleich forderten seine Anwälte die Bekl. zur Abgabe einer Vollstreckungsverzichtserklärung auf und kündigten für den Fall der Weigerung eine negative Feststellungsklage an. Die Bekl. gab daraufhin die gewünschte Verzichtserklärung ab und gestand zu, dass die Darlehensforderung erloschen sei.
Mit seiner vor dem AG erhobenen Klage forderte der Kl. Ersatz der zur Abwehr der Darlehensforderung durch die Einschaltung seiner Anwälte entstandenen Kosten in Höhe einer 1,5 Geschäftsgebühr gem. Nr. 2300 VV RVG nebst Auslagen. Das AG hat der Klage nur wegen einer 0,3 Verfahrensgebühr nach Nr. 3309 VV RVG stattgegeben und dem Kl. ein hälftiges Mitverschulden an der Schadensentstehung zugerechnet. Auf die Berufung des Kl. hat das LG M. der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Die hiergegen eingelegte Revision der Bekl. hatte keinen Erfolg.
2 Aus den Gründen:
„ … II.
[8] 1. Die Tätigkeit der vom Kl. beauftragten Rechtsanwälte erfüllt den Gebührentatbestand der Nr. 2300 VV RVG. Sie hatten den Bestand des titulierten Anspruchs zu prüfen, über den die Parteien in der notariellen Kaufvertragsurkunde eine Verrechnungsabrede getroffen hatten. Die hierzu entfalteten Tätigkeiten lösten die Geschäftsgebühr aus.
[9] a) Die Geschäftsgebühr gem. Nr. 2300 VV RVG entsteht gem. Vorbem. 2.3 Abs. 3 für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Aus der systematischen Stellung im zweiten Teil des Vergütungsverzeichnisses ergibt sich, dass es sich um eine außergerichtliche Tätigkeit handeln muss. Der Begriff "Betreiben des Geschäfts" ist weit auszulegen. Er umfasst unter anderem die erste auftragsgemäße Unterhaltung mit dem Auftraggeber, das anschließende Anlegen einer Handakte, den Entwurf eines Schreibens oder Schriftsatzes, seine Übersendung an den Auftraggeber zur Prüfung, die Durchsicht der Stellungnahme des Auftraggebers, die Reinschrift des Schriftsatzes, seine Unterzeichnung, seine Absendung und Einreichung sowie eine Akteneinsicht (Hartmann, KostG, 40. Aufl., VV 2300 Rn 12).
[10] b) Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Ob daneben eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3309 VV RVG in Ansatz gebracht werden kann, braucht nicht entschieden zu werden. Sie wird vorliegend nicht verlangt. Zur Prüfung der Erfolgsaussichten einer Vollstreckungsabwehrklage (§ 767 ZPO), einer negativen Feststellungsklage (vgl. BGH MDR 1985, 138; WM 2009, 918 Rn 8 f.), einer Nichtigkeits- oder Restitutionsklage (§§ 579, 580 ZPO) oder einer auf § 826 BGB gestützten Schadensersatzklage wegen Titelerschleichung oder sonstigen Urteilsmissbrauchs (vgl. BGH BGHZ 40, 130, 132 f.; BGHZ 50, 115, 117 ff.; BGHZ 101, 380, 383 ff.; BGHZ 103, 44, 46 ff.) muss der beauftragte Rechtsanwalt die materielle Rechtslage sowie die Beweislage in vollem Umfang durchdringen. Der Bearbeitungsaufwand unterscheidet sich dann nicht von demjenigen, den der Rechtsanwalt hätte aufbringen müssen, wenn er vor Einleitung eines streitigen Erkenntnisverfahrens mit der zunächst außergerichtlichen Bearbeitung des Falls betraut worden wäre. Gleicht sich der jeweilige Bearbeitungsaufwand, gibt es keine Rechtfertigung, die Geschäftsgebühr nur deshalb als nicht angefallen anzusehen, weil sie möglicherweise in Konkurrenz zu einer Gebühr aus Nr. 3309 VV RVG tritt.
[11] aa) Dieser Befund wird bestätigt durch einen Vergleich der gebührenrechtlichen Lage vor Erhebung einer Leistungsklage einerseits und einer Vollstreckungsabwehrklage andererseits. Erhält ein Rechtsanwalt einen unbedingten Auftrag zur Klageerhebung und führt vor derselben noch erfolgreich außergerichtliche Verhandlungen mit dem Gegner, hat er Anspruch auf eine Verfahrensgebühr gem. Nr. 3100, 3101 VV RVG. Denn die außergerichtlichen Verhandlungen gehör...