Die Kalendergeschichten (Erzählungen aus dem "Rheinländischen Hausfreund") Johann Peter Hebels (1760 – 1826) haben einen Stammplatz in der deutschen Literatur. Sie muten auf den ersten Blick harmlos an, sind aber mit ihrer Poesie und dem hintersinnigen Humor kleine Kunstwerke, deren sprachlicher Reiz selbst Schriftstellern vom Range eines Franz Kafka und Walter Benjamin Bewunderung abgenötigt hat. Einige Erzählungen aus dem "Schatzkästlein", wie z.B. das Lehrstück "Kannitverstan" haben nichts von ihrer Popularität verloren. Zu den Figuren des "Rheinländischen Haufreundes" gehören auch Advokaten. Ein Vertreter dieses Berufsstandes spielt eine Rolle in der Erzählung "Der Prozess ohne Gesetz", einer Prozessgeschichte.
Ein einfältiger Bauer – Hebel tut mit kunstvoller Beiläufigkeit kund, dass es einfältige Leute in allen Ständen gibt; er will schließlich keine Leserschaft gegen sich aufbringen – sucht einen Advokaten in der Stadt auf, um einen Streit mit seinem Nachbarn wegen eines Stück Reben im untern Berg auszutragen. Der Advokat solle einen Prozess daraus machen. Dieser wird, auch, wenn der mit seiner Pfeife lauter schwebende Ringlein in der Luft erzeugt, aber als ein aufrichtiger Mann, als Rechtsfreund und Rechtsbeistand natürlich – durchaus ein zweischneidiges Kompliment – geschildert. Er schenkt – seine Worte – dem Mandanten klaren Wein ein, was jener, womit seine Einfalt unterstrichen werden soll, wörtlich auffasst, denn er schaute unwillkürlich auf den Tisch, aber er sah keinen. Er versucht dem streitbaren Männlein klar zu machen, dass ein Prozess nicht zu gewinnen sei und schlägt nur zum Zwecke der Verdeutlichung die einschlägige Gesetzesstelle aus dem badischen Landrecht auf. Sehen wir uns genauer an, wie der Bauer nach dieser niederschmetternden Belehrung im wahrsten Sinne des Wortes das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden versucht. Als der Advokat für einen Augenblick das Besprechungszimmer verlässt, reißt das Bäuerlein das Blatt mit dem ihm nachteiligen Paragraphen einfach heraus in dem Glauben, auf diese Weise die einer Rechtsnorm inhärente Geltung im Sinne einer Anwendungs- und Befolgungspflicht aufzuheben. In seiner Vorstellungswelt setzt er die Existenz einer Rechtsnorm mit ihrem Erscheinungsbild auf einem Blatt Papier in eins. Dem Advokaten eröffnet er nach dessen Rückkehr: Ich meine, ich wills doch probieren … und machte ein verschlagendes Gesicht dazu, als wenn er noch mehr wüsste und sagen wollte. Es kann nicht fehlen. Der Prozess wird anhängig gemacht. Wie der Zufall es will, versäumt der Anwalt der Gegenpartei den Gerichtstermin und unser Bauersmann gewinnt den Prozess. Sein Advokat hat aber jeden Respekt bei ihm eingebüßt. Als dieser sich seinem Mandanten gegenüber rühmt: Diesen schlechten Rechtshandel habe ich gut für euch geführt, wird der Bauer ausfallend und kommentiert das anwaltliche Selbstlob indem er das herausgerissene Blatt aus der Tasche zieht, mit den Worten den Kukuk hat Er. Sieht Er da. Kann Er gedruckt lesen. Wenn Ich nicht das Gesetz aus dem Landrecht gerissen hätte, Er hätt' den Prozess lang verloren. Der Bauersmann kennt nicht die Ursache seines Triumphes. Schließlich hat er noch nie etwas von einem Versäumnisurteil gehört, das allerdings heute nicht (Schlüssigkeitsprüfung) ergangen wäre. Dass er obsiegt hat, schreibt er ausschließlich seiner Schlauheit gut. Man tritt ihm wohl nicht zu nahe, wenn man argwöhnt, dass er nebenbei seinen Advokaten um das Honorar prellen will.
Die Erzählung schließt mit dem Sinnspruch: So können Prozesse gewonnen werden. Wohl dem, der keinen zu verlieren hat. Darin kommt Hebels Abneigung gegen Prozesse, die offenbar nur Geld kosten, aber keinen wirklichen Rechtsfrieden schaffen, unverhüllt zum Ausdruck. Anwälte hat Hebel eigentlich ebenfalls nicht geschätzt. Doch kommt unser Advokat in der Erzählung ungeachtet der Selbstbeweihräucherung nach dem unverhofften Prozesserfolg gar nicht so schlecht weg.
RAuN a. D. Ulrich Ziegert, Lüneburg