1. Dauer der Lebensbeeinträchtigung wird zu wenig berücksichtigt
Das OLG Frankfurt hat anhand der beiden Entscheidungen vom OLG Hamm vom 19.11.2001 und vom OLG München vom 14.9.2005 erläutert, dass aktuell bei einer Unterschenkelamputation ein Tagessatz von lediglich 3 EUR für die Dauer der Beeinträchtigung viel zu gering ist. In dem Buch von Schwintowski/Schah Sedi/Schah Sedi (Handbuch Schmerzensgeld) ist eine Vielzahl von Entscheidungen der LG und OLG (ab Seite 195 ff.) ausgewertet und der jeweilige Tagessatz als Schmerzensgeldbetrag ausgerechnet. Die Entscheidungen reichen von 17 Cent pro Tag bis zu 38 EUR pro Tag. Bensalah und Hassel haben in ihrem Aufsatz "Kritische Aspekte zur taggenauen Schmerzensgeldberechnung" sehr plausibel das Rechenmodell von Schwintowski/Schah Sedi/Schah Sedi angewandt und kamen zu dem Ergebnis, dass ausgehend von dem monatlichen Bruttonationaleinkommen aus dem Jahre 2016 der Tagessatz bei einem 100 %igen GdS und einem Dauerschaden von 7 % aktuell bei 228,26 EUR liegt.
Geht man bei dem Verlust eines Unterschenkels von einem 50 %igen GdS aus, würde sich ein Tagessatz von 114,13 EUR ergeben. Bensalah und Hassel kommen überzeugend zu dem Ergebnis, dass diese Beträge zwar zunächst recht hoch anmuten, aber wenn man diese auf den Tagessatz runterrechnet, so ist eine Entschädigung von 114,13 EUR pro Tag für den Verlust eines Unterschenkels jedenfalls nicht überzogen. Genauso verhält es sich mit den übrigen Dauerschäden. Die aktuell ausgeurteilten Tagessätze beim Schmerzensgeld sind, was die Dauer der Beeinträchtigung betrifft, bei weitem zu gering. Mir ist schon bewusst, dass der Verlust eines Beines normalerweise überhaupt nicht in Geld aufgewogen werden kann. Da aber eine Wiederherstellung nicht möglich ist, muss dem Geschädigten irgendetwas – sprich hier: ein angemessener Euro-Betrag – zuerkannt werden.
Es ist daher die Frage, was unserer Gesellschaft der Verlust eines Beines pro Tag wert. Der Betrag, der nach dem bisherigen Schmerzensgeldsystem ausgeurteilt wird, von 3 EUR pro Tag, wie das OLG Frankfurt plausibel dargestellt hat, ist mit Sicherheit viel zu gering, was die Dauer der Lebensbeeinträchtigungen betrifft.
Menschen, die jeden Tag einen Schmerz haben und schwerste Schmerzmittel nehmen, müssen irgendwie versuchen, die Lebensbeeinträchtigung zu kompensieren. Da eine völlige Kompensation nicht möglich ist, versuchen die Betroffenen gleichwohl sich in irgendeiner Weise vom Schmerz abzulenken. Sagen wir einmal der Betroffene möchte in ein Kino oder ein Konzert gehen, um so von seinen Schmerzen, die er täglich hat, abgelenkt zu sein. Unterstellen wir einmal der Besuch eines Konzertes oder einer vergleichbaren kulturellen Veranstaltung wäre geeignet, den Geschädigten mit seinem Schmerz wenigstens für zwei oder drei Stunden von seinem Schmerz abzulenken und die weiteren Verletzungsfolgen nicht präsent in der eigenen Wahrnehmung zu haben. Wie viel Geld müsste der Geschädigte investieren?
Aktuell kosten Konzertkarten für ein Herbert Grönemeyer Konzert zwischen 58 EUR und 80 EUR zzgl. Vorverkaufsgebühren. Zwei Stunden Udo Lindenberg Live würden zwischen 58 EUR und 120 EUR zzgl. Vorverkaufsgebühren kosten. Bei Elton John würde man dagegen schon 120 EUR investieren müssen für zwei Stunden Ablenkung in einem Live-Konzert. Gehen wir mal davon aus, dass der Geschädigte sich zwei Stunden durch ein unterhaltsames Elton John-Konzert ablenken möchte. Würde man jetzt die nach dem bisherigen Schmerzensgeldsystem ausgeurteilten 3 EUR pro Tagessatz zugrundelegen, müsste der Geschädigte 40 Tage sparen, um sich zwei oder drei Stunden Ablenkung von seiner Lebensbeeinträchtigung in einem Elton John-Konzert leisten zu können. Derartige, ganz normale berechtigte Überlegungen verdeutlichen, warum wir in Deutschland bei schwerstgeschädigten Menschen im Hinblick auf die Ausurteilung von Schmerzensgeldern immer noch ein Entwicklungsland sind.
Daher sind 150 EUR oder 200 EUR als Tagessatz für den Verlust eines Beines durchaus angemessen.
Eine Parallele aus dem Kfz-Haftpflichtbereich, in der es um Blechschäden geht, verdeutlicht, dass Dilemma noch viel mehr. Im Blechschadensbereich haben wir schon lange die "taggenaue Berechnung". Dort wird nach Auffassung des BGH empfohlen, dass die Richter die "taggenaue Berechnung" eines Sachschadens nach den Tabellen Sanden/Danner/Küppersbusch vornehmen. In jener Nutzungsausfalltabelle beträgt der Tageshöchstsatz für den Ausfall eines Fahrzeuges in der Gruppe L 175 EUR! Dies bedeutet, dass es uns nach aktueller Rechtslage wert ist, für den Verlust eines Luxusfahrzeugs pro Tag dem Geschädigten 175 EUR zuzusprechen. Für einen Geschädigten, der einen Tag lang ohne Bein auskommen muss und einen Dauerschmerz hat, ist die Gesellschaft lediglich bereit 3 EUR pro Tag auszugeben. Auch wenn dieses Beispiel etwas provokant gewählt ist, zeigt es doch sehr wohl die Dramatik der Lage sehr gut. Wir alle dürfen uns daher die Frage stellen, was der Verlust eines Beines uns in der Gesellschaft wert ist. Das heißt, welchen Tagessatz wir bereit sind dem ...