Man ist ja von der Berliner Landesverwaltung allerlei hämische Schlagzeilen gewohnt, was fehlgeschlagene Projekte und Abläufe ins Leere angeht. Aber dass das KG, das in Sachen IT ja zuletzt ohnehin harte Rückschläge durch Systemausfälle zu verzeichnen hatte, nun das "größte AG Deutschlands" in einer Weise vor vernünftiger Selbstorganisation schützt, die ernsthafte Zweifel am modernen Justizstandort Deutschland weckt, sollte eigentlich nicht sein. Ungeachtet des Umstands, den wohl nahezu alle Verteidiger und auch viele Richter bestätigen können, dass es nämlich – nicht nur in Berlin – keinesfalls gewährleistet ist, sich erfolgreich "an die Geschäftsstelle eines Gerichts wenden" zu können (unbesetzte Stellen, Wartehotlines ohne Wiederkehr, Absenz wegen Protokolldiensten etc.), ist die Tatsache, dass es drei (in Worten DREI) Tage braucht, bis ein elektronischer Eingang auf der zuständigen Geschäftsstelle landet, einfach erschreckend. Dass Burhoff dies treffsicher mit "Willkommen im 21. Jahrhundert" kommentiert ( https://blog.burhoff.de/2020/06/owi-ii-22/ ), ist die eine, humoristische Seite der Entscheidung, der man sich unweigerlich stellen muss.
Es gibt aber auch die andere Sichtweise, die rein juristische: Es gibt überhaupt keinen Bedarf, wenn ein Zugang oder ein Antrag "mit offenem Visier", wie es das BayObLG (zfs 2019, 409) richtigerweise beschrieb, erfolgte, schlecht organisierte Abläufe auch noch durch Rettungsmaßnahmen zu begleiten. Denn: Ist der Schriftsatz bzw. Antrag rechtzeitig bei Gericht eingegangen, genügt das, unabhängig von der Kenntnis der Richters, sowohl für eine Entschuldigung als auch für eine Entbindung (OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.2.2020 – (2 B) 53 Ss-OWi 755/19 (299/19); OLG Naumburg, Beschl. v. 25.8.2015 – 2 Ws 163/15; OLG Bamberg, Beschl. v. 23.5.2017 – 3 Ss OWG 654/17; BayObLG, Beschl. v. 15.4.2019 – 202 ObOWi 400/19; OLG Naumburg, Beschl. v. 9.6.2020 – 1 Ws 23/20). Es ist nämlich allenfalls eine Frage der Selbstorganisation, dass der Richter davon Kenntnis erlangt: In der 15-minütigen Pflichtwartezeit ist es dem Richter, trotz der "Dynamik" eines Sitzungstages, durchaus möglich, sowohl bei seiner Geschäftsstelle als auch bei der Zentrale nach Eingängen zu fragen. Das kostet ihn jeweils 30 Sekunden – WENN er denn dort jemanden erreicht …
Es sollte insgesamt also nicht Aufgabe der obergerichtlichen Instanz sein, ineffektive Kommunikationsstrukturen von Gerichten zu schützen und zu zementieren (deshalb auch verfehlt OLG Bremen, Beschl. v. 22.4.2020 – 1 SsBs 65/19: Kostentragung bei "zu später" Rücknahmeerklärung). Der Grundsatz "too big to fail" würde sonst Gefahr laufen, sich auch in der Justiz zu verwirklichen, wenn allein die Größe eines Gerichts als Rechtfertigung für fehlgeschlagene Abläufe dienen wird.
RAG Dr. Benjamin Krenberger
zfs 8/2020, S. 470 - 471