VV RVG Nr. 1010
Leitsatz
1. Die Zusatzgebühr nach Nr. 1010 VV RVG erfordert, dass mindestens drei gerichtliche Termine stattgefunden haben, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen worden sind. Der von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumte Ortstermin ist kein solcher Termin.
2. Fehlt es an dem vorgenannten Erfordernis, kann die Zusatzgebühr auch nicht bei einer langen Dauer des Verfahrens, bei umfangreichen Akten oder bei einem erheblichen Aufwand der Prozessbevollmächtigten entstehen.
(Leitsatz der Schriftleitung)
OLG München, Beschl. v. 26.6.2020 – 11 W 674/20
Sachverhalt
Mit Klageschrift v. 20.10.2005 hatten die Kl. gegen die Bekl. Mängelansprüche hinsichtlich der von dieser durchgeführten Zimmereiarbeit geltend gemacht. Das LG Traunstein führte in diesem Rechtsstreit eine ausführliche Beweisaufnahme durch und holte mehrere Sachverständigengutachten ein, die von den Sachverständigen teilweise auch mündlich erläutert wurden. In den beiden Terminen vom 9.10.2015 und vom 16.6.2016 ist es zu einer Anhörung der gerichtlich bestellten Sachverständigen gekommen. In den weiteren Terminen vom 22.5.2014, 23.9.2014 und 6.9.2017 kam es nicht zu einer Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen. Im Termin vom 22.5.2014 waren Sachverständige zwar anwesend; es kam jedoch wegen eines Befangenheitsgesuchs nicht zu deren Anhörung. Am 23.9.2014 scheiterte die Vernehmung dann offensichtlich am Abschluss eines Vergleichs. Das LG Traunstein gab der Klage schließlich durch Urt. v. 5.10.2017 zu einem erheblichen Teil statt. Von den Kosten des Rechtsstreits hat das LG den Bekl. 82 % der Kosten des Rechtsstreits auferlegt. Dieses Urteil wurde rechtskräftig.
Mit Kostenfestsetzungsantrag vom 6.11.2019 haben die Kl. – soweit hier von Interesse – die Festsetzung einer 0,3 Zusatzgebühr nach Nr. 1010 VV RVG beantragt. Dies haben sie damit begründet, es hätte eine ganze Reihe von Gerichtsterminen stattgefunden, ferner hätten die Sachverständigen Ortstermine durchgeführt. Darüber hinaus sei auch ein Privatgutachten in den Rechtsstreit einbezogen worden.
Die Rechtspflegerin des LG Traunstein hat die Festsetzung der Zusatzgebühr mit der Begründung abgelehnt, es habe zwar mehrere gerichtliche Termine gegeben, jedoch seien nur in zwei dieser Termine Sachverständigen vernommen worden. Die Voraussetzungen für die Entstehung der Gebühr seien damit nicht gegeben.
Mit ihrer hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde haben die Kl. unter anderem geltend gemacht, in dem Gerichtstermin v. 22.5.2014 habe die Vernehmung von zwei Sachverständigen zumindest begonnen. Außerdem sei das Verfahren außergewöhnlich umfangreich gewesen, was sich nicht zuletzt aus dessen Dauer und dem Umfang der Akten ergebe. Das OLG München hat die sofortige Beschwerde zurückgewiesen.
2 Aus den Gründen:
"… II."
[6] Die gem. §§ 104 Abs. 3, 567, 569 ZPO zulässige sofortige Beschwerde muss – so nachvollziehbar ihr Anliegen im Kern auch sein mag – ohne Erfolg bleiben:
[7] 1. Die im Jahre 2013 mit dem 2. KostRMoG eingeführte Gebührenziffer VV-RVG Nr. 1010 lässt, von Wortlaut wie auch von der Gesetzesbegründung her (BT-Drs 17/11471, S. 272, re. Sp. oben), an Deutlichkeit zu wünschen übrig, weshalb ihr in der Literatur teilweise ein relevanter Anwendungsbereich abgesprochen wird (etwa Hansens RVGreport 2015, 340, 341; Ders. RVGreport 2013, 410). Rspr. dazu existiert kaum (siehe z.B. LG Ravensburg RVGreport 2015, 340 (Hansens) = AGS 2016, 393), die Behandlung in der Kommentarliteratur ist übersichtlich (vgl. Gerold/Schmidt-Müller-Rabe, RVG, 24. Aufl., VV Nr. 1010; Schneider/Wolf, RVG, 8. Aufl., VV Nr. 1010).
[8] 2. Der Senat teilt die Auffassung der Rechtspflegerin, wonach die gesetzlich vorgegebenen Voraussetzungen für die Entstehung der Zusatzgebühr hier nicht angenommen werden dürfen.
[9] a) Vorliegend kommt es ohne Zweifel nicht darauf an, ob die im Wortlaut genannte “besonders umfangreiche Beweisaufnahme' bereits durch mindestens drei Gerichtstermine, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen werden, indiziert wird oder ob es sich dabei um ein eigenständiges (vom Rechtspfleger, der das Verfahren nicht kennt), zusätzlich zu prüfendes, Tatbestandsmerkmal handelt: Der langjährige Verlauf des Verfahrens mit einer ganzen Reihe von Gerichtsterminen, mehreren Gutachten etc. legt nahe, dass die Gebühr an diesem Tatbestandsmerkmal nicht scheitern würde.
[10] b) Das Gesetz sieht indes vor, dass in mindestens drei Terminen Sachverständige oder Zeugen vernommen wurden – daran fehlt es hier. Zu Recht führt die Rechtspflegerin aus, nur in den beiden Terminen v. 9.10.2015 und v. 16.6.2016 sei es zu einer Anhörung der Bausachverständigen gekommen.
[11] aa) Ein Abstellen auf die gewiss lange Dauer des Verfahrens, den Umfang der Akten, den erheblichen Aufwand der Anwälte etc., ist nicht möglich: Gerade das Kostenrecht bedarf klarer, praktikabler und unmissverständlicher Vorgaben, da es der Rechtspflegerin oder dem Kostenbeamten nicht angesonnen werden kann, in Fällen wie hier weitergehende Überlegungen, bspw. zum Anliege...