VVG § 90 § 83
Leitsatz
1. Der Beweis für die Tatsachen, aus welchen sich ein Anspruch auf Aufwendungsersatz wegen Abwendung eines Wildunfalls ergibt (§ 90 VVG), kann auch dann geführt sein (so hier – Anspruch bejaht), wenn ein Zeuge falsche Schätzangaben zu Entfernung und Geschwindigkeit macht.
2. Auch bei einer Reflexhandlung des Fahrers kann ein solcher Anspruch bestehen.
3. Grobe Fahrlässigkeit verneint bei einem Ausweichmanöver einer schwangeren Fahrerin nach Erkennen eines über die Fahrbahn laufenden Rehs.
OLG Hamm, Beschl. v. 7.10.2020 – 20 U 128/20
1 Aus den Gründen:
Das LG hat der auf Aufwendungsersatz nach einer unfallbedingten Beschädigung eines teilkaskoversicherten Fahrzeugs und auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichteten Klage zu Recht stattgegeben …
1. Der in der Hauptsache geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Zahlung von 10.319,51 EUR ergibt sich aus § 90 VVG in Verbindung mit § 83 Abs. 1 VVG.
a) Die Beweislast dafür, dass der Eintritt eines Versicherungsfalls – nämlich eine Beschädigung des versicherten Fahrzeugs durch eine Kollision mit einem auf die Straße laufenden Reh – im Sinne von § 90 VVG unmittelbar bevorstand, trägt der Kläger. Beweiserleichterungen kommen ihm nicht zugute (vgl. OLG Rostock SP 2016, 312).
Der Senat hat keine Zweifel im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an der Feststellung des LG, der Kläger habe diesen Beweis geführt. Davon ist vielmehr auch der Senat überzeugt.
aa) Die Zeugin L hat bei ihrer Vernehmung durch das LG den Unfallhergang, aber auch das Randgeschehen davor und danach detailliert und lebensnah geschildert. Der Senat ist ebenso wie das LG sicher, dass die Zeugin über ein tatsächlich in dieser Form erlebtes Geschehen berichtet hat. Der in der Berufungsbegründung angesprochene Umstand, dass die Zeugin als Lebensgefährtin des Klägers ein eigenes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat, macht sie für sich genommen nicht unglaubwürdig. Auch daraus, dass der Kl. dem zuständigen Jagdpächter eine vorformulierte Erklärung zur Unterschrift vorgelegt haben mag, lässt sich nichts gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugin oder gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage herleiten.
Schließlich spricht das Vorbringen in der der Berufungsbegründung, die Zeugin habe bei einem Abstand von 2 Metern zu dem auf die Fahrbahn laufenden Reh und einer Geschwindigkeit von etwa 30 km/h gar nicht die Zeit gehabt, um mit dem von ihr bei der landgerichtlichen Vernehmung beschriebenen "Verreißen" des Lenkrads zu reagieren, nicht gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin. Es liegt auf der Hand, dass es sich bei diesen Angaben um grobe Schätzungen handelt. Das gilt nicht nur, weil ganz allgemein Angaben von Zeugen zu Entfernungen und Geschwindigkeiten häufig fehlerbehaftet sind. Vielmehr kommt im hier zu beurteilenden Fall hinzu, dass sich das Geschehen für die Zeugin in Sekundenbruchteilen ereignete, diese also hinsichtlich der Entfernung des Rehs nur ganz flüchtige Wahrnehmungen machen konnte. Daraus, dass die Entfernung nach der Erinnerung der Zeugin nur zwei Meter betrug, kann deshalb nicht abgeleitet wäre, dass ihre Schilderung eines intuitiven, reflexartigen Ausweichmanövers nicht der Wahrheit entspricht.
bb) Entgegen dem Vorbringen in der Berufungsbegründung war das LG nicht gehalten, die von der Beklagten benannte Zeugin O zu der Behauptung zu vernehmen, die Zeugin L habe vorprozessual geschildert, nach dem Erkennen des Rehs "die Hände vor das Gesicht geschlagen" zu haben, wobei von einem Ausweichmanöver "keine Rede" gewesen sei.
Ein reflexartiges schreckbedingtes Verreißen des Steuers einerseits und ein anschließendes Heben der Hände vor das Gesicht, wenn womöglich eine Kollision als vermeintlich unausweichlich empfunden wird, schließen sich nicht aus. Dass die Zeugin vorprozessual erklärt hätte, gerade nicht ausgewichen zu sein, sondern stur geradeaus gefahren zu sein und nur in der Weise reagiert zu haben, dass sie die Hände vor das Gesicht schlug, behauptet die Beklagte nicht.
Wenn das von der Zeugin beschriebene Verreißen des Steuers in diesem Sinne "reflexartig" erfolgt sein mag, schließt dies im Übrigen eine Anwendung von § 90 VVG nicht aus. Dieser erfordert nur ein Verhalten, das nach den Umständen objektiv geeignet ist, das versicherte Risiko (hier den Zusammenstoß mit dem Reh) nicht eintreten zu lassen, ohne dass dies subjektiv bezweckt gewesen sein muss (BGH VersR 1997, 351, juris Rn 12).
b) Damit hat die Beklagte gemäß § 90 VVG in Verbindung mit § 83 Abs. 1 S. 1 VVG die durch das Ausweichmanöver entstandenen Aufwendungen insoweit zu ersetzen, als die Zeugin L diese nach den Umständen für geboten halten durfte.
aa) Der Umstand, dass das Ausweichmanöver nicht vom Kläger selbst, sondern von seiner Lebensgefährtin vorgenommen wurde, spielt für die Ersatzpflicht keine Rolle. Zu ersetzen sind auch Folgen von Fahrmanövern eines Dritten, und zwar auch dann, wenn er – wie hier – nicht Repräsentant des Versicherungsnehmers ist (vgl. BGH VersR 2003, 1250).
bb) Zu Unrecht macht die Beklagte in der Beruf...