StPO § 111a § 136; StGB § 69 § 142
Leitsatz
Der Halter eines Kraftfahrzeuges ist vor einer polizeilichen Befragung zur Fahrereigenschaft im Rahmen von Unfallfluchtermittlungen grundsätzlich als Beschuldigter zu belehren, soweit seine Fahrereigenschaft nicht aufgrund anderer Erkenntnisse ausgeschlossen ist. In diesen Fällen ist die Durchführung einer so genannten "informatorischen Befragung" regelmäßig ermessensfehlerhaft. Entsprechend gewonnene Erkenntnisse aus einer polizeilichen Befragung des Halters ohne vorherige Beschuldigtenvernehmung sind in diesem Fall unverwertbar.
LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 28.6.2022 – 5 Qs 40/22
Sachverhalt
Das AG hat gegen die Angeklagte einen Strafbefehl wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort erlassen. Der Angeklagten wird vorgeworfen, mit ihrem Pkw ausgeparkt zu haben und dabei mit dem auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkenden Pkw kollidiert zu sein (Fremdsachschaden in Höhe von 3.268,69 EUR). Darüber hinaus entzog das AG der Angeklagten mit Beschl. v. gleichen Tag vorläufig die Fahrerlaubnis und ordnete die Beschlagnahme des Führerscheins an. Die Angeklagte legte fristgerecht Einspruch gegen den Strafbefehl und später auch Beschwerde gegen den Beschluss ein. Die Beschwerde wurde unter anderem damit begründet, dass gegen die Angeklagte kein Tatverdacht bestehe. Zwar habe sie im Ermittlungsverfahren gegenüber der Polizei angegeben, dass sie gefahren sei. Sie sei aber zuvor nicht als Beschuldigte belehrt worden, weshalb diese Angaben unverwertbar seien. Eine sonstige Identifizierung als verantwortliche Fahrzeugführerin sei nicht möglich. Das LG Nürnberg-Fürth hat auf die Beschwerde der Angeklagten den Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben und angeordnet, den Führerschein der Angeklagten unverzüglich herauszugeben.
2 Aus den Gründen:
[…] II. Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Für ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort besteht derzeit kein dringender Tatverdacht.
Nach § 111a StPO kann die Fahrerlaubnis vorläufig nur dann entzogen werden, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die Fahrerlaubnis gem. § 69 StGB endgültig entzogen wird. Dringende Gründe für den endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis liegen vor, wenn dies in hohem Maße wahrscheinlich ist (BVerfG, Beschl. v. 25.4.1995 – 2 BvR 1847/94). Die Kammer hält nach derzeitigem Ermittlungsstand einen endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis zwar nicht für ausgeschlossen, gleichwohl aber nicht in hohem Maße für wahrscheinlich.
Eine Identifizierung der Angeklagten als verantwortliche Fahrzeugführerin ist derzeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit gegeben.
1. Die Angaben der Angeklagten gegenüber dem Polizeibeamten S. sind unverwertbar.
a) Die polizeilichen Ermittlungen führten zur Angeklagten als Halterin des Fahrzeugs. Der Zeuge E. beobachtete die Kollision und teilte der Polizei das Kennzeichen des unfallverursachenden Fahrzeugs mit. Außerdem gab er an, dass die Fahrzeugführerin eine "ältere Dame, ca. 50-70 Jahre" gewesen sei. Ausweislich des Aktenvermerks wurde die Angeklagte anschließend über eine Kennzeichenabfrage als Halterin des flüchtigen Pkws an ihrer Anschrift angetroffen. Im Rahmen eines "informatorischen Gesprächs" habe sie die Fahrereigenschaft eingeräumt. Auf die erst daraufhin erfolgte Beschuldigtenbelehrung machte sie von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.
Die Angeklagte war bereits vor der Befragung des Polizeibeamten gem. § 136 Abs. 1 StPO als Beschuldigte zu belehren. Beschuldigter in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist der Tatverdächtige, gegen den das Verfahren als Beschuldigter betrieben wird. Grundsätzlich ist es dabei der pflichtgemäßen Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde überlassen, ob sie gegen jemanden einen solchen Grad des Verdachts auf eine strafbare Handlung für gegeben hält, dass sie ihn als Beschuldigten verfolgt. Wenn aber ausreichende Gründe dafür vorliegen, einen einer Straftat Verdächtigen als Beschuldigten zu verfolgen, darf dieser nicht aus sachfremden Erwägungen in die Rolle eines Zeugen gedrängt und nur eine "informatorische Befragung" durchgeführt werden. Bedeutsam ist die Stärke des Tatverdachts, den der Polizeibeamte gegenüber dem Befragten hegt. Hierbei hat der Beamte einen Beurteilungsspielraum, den er freilich nicht mit dem Ziel missbrauchen darf, den Zeitpunkt der Belehrung nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO möglichst weit hinauszuschieben (BGH, Beschl. v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91).
Vorliegend war es seitens des Polizeibeamten ermessensfehlerhaft, die Angeklagte vor der Befragung nicht als Beschuldigte zu behandeln und entsprechend zu belehren. Die mögliche Täterin war nicht mehr nur in einer nicht näher bestimmten Personengruppe zu suchen, sondern der Tatverdacht hatte sich nach der Ermittlung der Angeklagten als Fahrzeughalterin bereits auf sie verdichtet, auch wenn grundsätzlich auch andere Personen als Nutzer des Fahrzeugs des Angeklagten in Betracht kommen (OLG Nürnberg, Beschl. v. 4.7.2013 – 2 OLG Ss 113/13; LG Duisburg, Beschl. v. 13.7.2018 – 35 Qs 38/18; LG Zw...