1. Beschluss des BayObLG v. 4.1.2021

Nach dem Beschluss des BVerfG hat zunächst erneut das BayObLG über die Frage des Einsichtsrechts in Messunterlagen entschieden.[40] Es hat der Rechtsbeschwerde zwar stattgegeben, soweit der Verteidigung trotz ihrer Anträge die digitale Messdatei (einschließlich der Rohmessdaten) der verfahrensgegenständlichen Messung nicht zur Verfügung gestellt worden ist.

Sodann hat es jedoch ein Recht auf Einsichtnahme und Überlassung der gesamten Messreihe vom Tattag abgelehnt. Die Rechtsbeschwerde sei unzulässig, weil ein sachlicher Zusammenhang mit dem Tatvorwurf nicht dargetan sei. Aus der Betrachtung der gesamten Messreihe könnten keine für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Messung relevanten Erkenntnisse hergeleitet werden.[41] Das habe die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in einer Stellungnahme "überzeugend dargelegt".

2. Beschlüsse des OLG Jena und des OLG Stuttgart

Anders hat sodann das OLG Jena in seinem Beschl. v. 17.3.2021 entschieden (ebenso das OLG Stuttgart in seinen Beschlüssen vom 3.8.2021 und vom 12.10.2021).[43] Das aus dem Recht auf ein faires Verfahren herzuleitende Einsichtsrecht des Betroffenen in die Messunterlagen erstrecke sich auf die mit der verfahrensgegenständlichen Messung (des Betroffenen) in Zusammenhang stehende Messreihe, d.h. auf die gesamten am Tattag an der Messstelle zum Nachweis von Verkehrsverstößen angefallenen und gespeicherten digitalen Falldatensätze. Die am Tattag an der Messstelle generierten Falldateien anderer Verkehrsteilnehmer stünden in sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem dem Betroffenen angelasteten Geschwindkeitsverstoß und könnten aus der (maßgeblichen) Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein. Denn die Kenntnis der dort zeitnah gewonnenen Messdaten, die sich nicht auf die ihm vorgeworfene Tat beziehen, verschaffe dem Betroffenen eine breitere Grundlage für die Prüfung, ob im konkreten Fall tatsächlich ein standardisiertes Messverfahren ordnungsgemäß zur Anwendung gekommen ist und das Messgerät fehlerfrei funktioniert hat, indem sie anhand der Daten, die im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Messung an gleicher Stelle erhoben worden sind, die Suche nach Hinweisen auf etwaige Fehlfunktionen des Messgeräte oder Fehler bei der Durchführung eröffne, die eventuell Rückschlüsse auf die Fehlerhaftigkeit auch der eigenen Messung erlaubten. Dass ein die Messreihe insgesamt betreffender Fehler, der sich in anderen Dateien abbildet, aus der Messdatei des konkreten Verkehrsverstoßes ebenfalls hervorgehen müsste,[44] treffe in dieser Allgemeinheit nicht zu. Bestimmte Auffälligkeiten wie etwa fehlende Vollständigkeit der Aufnahmen, Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen, Stellungs- oder Standortveränderungen des Messgerätes, stark abweichende Positionen mehrerer der aufgenommenen Fahrzeuge zur Fotolinie oder gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse seien für den Betroffenen bzw. einen von ihm beauftragten Sachverständigen nur durch Betrachtung aller Aufnahmen zu ermitteln.[45]

Die vom BVerfG für die Gewährung des Informationszugang geforderte Relevanz der begehrten Informationen für die Verteidigung lasse sich nicht mit der Erwägung verneinen, dass aus der Betrachtung der gesamten Messreihe ohnehin keine für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Einzelmessung erheblichen Erkenntnisse gezogen werden könnten.[46] Die insoweit erhobenen Einwände reichten nicht aus, um schon die Möglichkeit etwa aus der Messreihe insgesamt abzuleitender Entlastungsmomente schlechthin auszuschließen und der Messreihe von vornherein eine potentielle Beweiserheblichkeit abzusprechen. Ob bestimmte Informationen für die Verteidigung von Bedeutung sein können, unterliege allein ihrer Einschätzung, wobei sie – wie vom BVerfG dargelegt – auch rein theoretischen Entlastungsmöglichkeiten nachgehen könne. Dass die dem Gericht obliegende Aufklärungspflicht sich nicht auf Ermittlungen erstrecke, "die sich auf die nur theoretische, nicht tatsachengestützte Möglichkeit einer Entlastung gründen", so dass der Betroffene derartige Ermittlungen vom Gericht nicht verlangen kann,[47] sei für den Umfang des vorgelagerten Informationsanspruchs des Betroffenen gegenüber der Behörde ohne Belang.

[42] OLG Stuttgart, zfs 2021, 647 und zfs 2021, 709.
[43] Az. 1 OLG 331 SsBs 23/20, VRR 5/2021 S. 19.
[45] Cierniak, zfs 2012, 664, 672.

3. Divergenzvorlagen des OLG Zweibrücken und des OLG Koblenz

Das OLG Zweibrücken hat die Frage, ob in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten ("gesamte Messreihe") auch dann ein Verstoß gegen den Gru...

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